Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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nicht daran, seinen Morgenschlaf zu opfern.

      Der einzige Bekannte, den Nesthäkchen auf dem Bahnhof entdeckte, war der Stationsvorsteher mit der roten Mütze.

      3. Kapitel

       In Tübingen

       Inhaltsverzeichnis

      In der großen Bahnhofshalle in Stuttgart, oder vielmehr »Stuckart«, wie die Einwohner ihre Stadt zu nennen pflegen, schaute Annemarie sich vergeblich die Augen nach Marlene und Ilse aus. Sie hatte bestimmt gehofft, daß die beiden sich zum nächsten von Würzburg kommenden Zuge an der Bahn einfinden würden. Aber soviel Annemarie auch schaute, so oft sie auch einer Schwarzhaarigen und einer Hellblonden nachjagte – stets vergeblich.

      »Dämelsack!« knurrte Doktors Nesthäkchen ärgerlich in sich hinein und meinte eigentlich sich selber mehr damit als die Freundinnen. Denn Annemarie hatte in ihrer Huschligkeit wieder mal nicht recht hingehört, wie das Hotel hieß, in dem Marlenes Vater Zimmer für sie bestellt hatte. Nun stand sie ratlos am Ausgang und wußte nicht, wohin sich wenden. Hotel neben Hotel, welches mochte das richtige sein? Es half nichts, sie mußte die Runde machen und Nachfrage halten. Aber wohin sie sich auch wandte, nirgends waren die beiden jungen Damen, Fräulein Ulrich und Fräulein Hermann, abgestiegen. Was nun? Annemarie eilte wieder zum Bahnhof zurück in der Hoffnung, daß sich die Freundinnen vielleicht verspätet hätten. Mit dem gleichen negativen Erfolge.

      Da leuchtete ein Plakat von der Bahnhofswand: »Hotel Continental, erstklassig, mit allem modernen Komfort.« Halt, war das nicht der Name des Hotels gewesen? Sicherlich! Annemarie glaubte sich jetzt bestimmt zu erinnern. Der Name war nicht unter den Gasthäusern, die sie bisher abgeklappert, also vorwärts mit frischer Hoffnung nach Hotel Continental.

      Sie fragte einen Polizisten nach der Lage desselben.

      Er verstand sie nicht.

      »Hotel Kontinental gibt’sch gar nit bei uns da.«

      »Aber dort steht es ja angeschlagen.« Die junge Dame wies auf das Plakat.

      »Ach, Sie meinen Zontinen-Tal.« Der Mann betonte die ersten drei Silben, als ob sie den Namen für das darauffolgende Tal bildeten.

      »Freilich, Zontinen-Tal.« Annemarie kicherte wie ein Kobold. Ihre gute Laune, die bei dem vergeblichen Suchen etwas Schiffbruch gelitten, war im Umsehen wiederhergestellt.

      »Ja, da müssen’s erscht nach linksch gehe und dann gradaus und dann wieder das Gäßle nach linksch, aber das ischt weit.« Doktors Nesthäkchen, das zum erstenmal den unverblümten schwäbischen Dialekt hörte, strahlte vor Vergnügen. Es dankte und machte sich auf nach »Zontinen-Tal«.

      »Erscht nach linksch«, wiederholte Annemarie übermütig, »dann gradausch und dann wieder nach linksch«; sie sprach noch mehr »sch« als der biedere Schwabe.

      Der Polizist hatte recht. Es war ein weiter Weg. Sie bekam einen guten Teil der Stadt dabei zu sehen. Die für alles Schöne leicht Begeisterte war entzückt von der anmutigen, in Weinberge eingeschmiegten Lage Stuttgarts. Vornehme Villenstraßen, gartenumkränzt, zogen sich rings zu den Höhen.

      So – nun stand sie endlich, ziemlich erhitzt, vor dem großen Prachtbau des Hotels »Zontinen-Tal«.

      Himmel – wie elegant! Hier sollten Marlene und Ilse abgestiegen sein? Eigentlich kaum denkbar. Annemarie mußte lächeln, wenn sie vergleichend an den »Bunten Hahn« zu Würzburg dachte.

      Unverfroren, wie das ihre Art war, betrat sie das mit lichtblauen Plüschteppichen belegte Vestibül und fragte den livrierten Majordomus nach den Freundinnen. Die Namen wollten sich im Fremdenbuch nicht zeigen. Aber ein schönes Zimmer war gerade soeben frei geworden. Die Dame hätte heute Glück. Ein Zimmer mit Bad wär’s.

      Gewiß war das Zimmer sehr teuer. Und sicher hatten Marlene und Ilse für sie doch Unterkunst. Aber wo?

      »Wenn das gnädige Fräulein noch kein Logis hat, wird es schwerlich ohne Vorherbestellung noch etwas finden«, meinte der Hausmeister. »Nur durch Zufall ist das eine Zimmer frei.«

      »Was kostet es?« fragte Annemarie mit kühnem Entschluß.

      »Fünfzehn Mark.«

      »Wieviel?« Annemarie traute ihren Ohren nicht.

      »Das ist nit zuviel für ein schönes Balkonzimmer mit Bad«, meinte der Geschäftsführer.

      Fünfzehn Mark – das bedeutete einen großen Riß in ihre Kasse. Trotzdem nahm Annemarie das Zimmer. Sie mußte doch ein Nachtquartier haben, und von dem Umherirren hatte sie nun genug.

      Ja, der hochelegant möblierte Raum sah freilich anders aus als das schmutzige Hofzimmer im »Bunten Hahn«. Statt der rotkarierten Bettüberzüge eine hellblauseidene Daunendecke – wie eine Prinzessin. Wenn Vater und Mutti wüßten, daß ihr Nesthäkchen in dem elegantesten Hotel gelandet war!

      Zuerst stieg Annemarie in die Fluten der weißen Kachelwanne hinab, die im Nebenraum Erfrischung bot. Nicht nur der Erfrischung und Reinlichkeit wegen, sondern hauptsächlich, um die fünfzehn Mark abzuarbeiten.

      Nun war es Zeit zum Mittagessen. Aber in dem vornehmen Hotel war es gewiß unerschwingbar. Wohin?

      Sollte sie …, nein, Herr Hartenstein hatte sie doch davor gewarnt. Ach was, billig war der »Elefant« bestimmt. Und sie mußte doch die fünfzehn Mark Nachtquartier wieder auf andere Weise wettmachen. Daß ein gut Teil Evasneugier auch dabei war, das Lokal, das Herr Hartenstein für junge Damen ungeeignet fand, kennenzulernen, mochte Annemarie sich nicht eingestehen.

      Nach vielem Hin und Her hatte sie den »Elefanten« glücklich ausfindig gemacht. Es war recht voll in dem tabakverqualmten Raum. Vorwiegend Gäste der unteren Schichten. Arbeiter in blauen Blusen, Fuhrleute, Marktweiber. Lärmen und Lachen, Bierdunst und Pfeifenqualm. Keck nahm Doktors Nesthäkchen an einem der ungedeckten Tische Platz und bestellte wie einer ihrer nicht sehr salonfähigen Nachbarn »Erbswurscht mit Salat«. Die Kellnerin brachte gleich dazu einen großen Steinkrug mit Bier. Annemarie ließ es sich schmecken. Sie nahm weiter keinen Anstoß daran, daß ihre Tischgenossen zum Teil kragenlos waren und keine gepflegten Nägel hatten; und daß eine der Marktfrauen ihre blaugedruckte Schürze als Serviette und Taschentuch zugleich benutzte.

      Nur die vielen erstaunten Blicke, die sie selbst streiften – denn oft mochte es wohl nicht vorkommen, daß eine gut angezogene junge Dame hier speiste, noch dazu eine, die im Hotel Continental wohnte –, waren ihr etwas lästig.

      »So – die größte Sehenswürdigkeit von Stuttgart, den ›Elefant‹, hätten wir kennengelernt, und wundervoll billig war’s obendrein!« Höchst befriedigt trat Doktors Nesthäkchen wieder auf die Straße.

      Die Hoffnung, Marlene und Ilse irgendwo in dem Gewühl der Hauptstraße austauchen zu sehen, erfüllte sich nicht. Nun, schlimmstenfalls traf man sich in Tübingen wieder. Vielleicht auch schon im Zuge dorthin. Was mit dem Nachmittag anzufangen sei, machte Annemarie kein Kopfzerbrechen. Von Mitreifenden hatte sie gehört, daß die Aussicht auf Stuttgart von einer der Höhen, zu denen eine Zahnradbahn hinaufführte, am schönsten sei. Gesellschaft hätte die gesprächige Annemarie allerdings ganz gern bei diesem Ausflug gehabt. Wiederum aber war es ganz amüsant, so ganz frei und ungebunden auf eigene Faust loszumarschieren.

      Annemarie war noch nie mit einer Bergbahn gefahren. Erstaunt betrachtete sie die kastenartigen Abteile, die in schräger Linie aufwärts stiegen, und nahm in einem derselben Platz. Die Bahn war ziemlich voll, denn ein Teil der Stuttgarter Bevölkerung hatte seine Villen oben auf den Höhen. Eine Dame, die hinter ihr saß, belästigte sie mit ihrem großen Hut.

      Doktors Nesthäkchen stieß ärgerlich mit dem Rücken dagegen. Es nützte nichts. Solche Rücksichtslosigkeit – mochte sie doch ihren Hut abnehmen, wenn er so riesengroß war wie ein Wagenrad.

      »Au!« machte Annemarie empört.

      »Entschuldigen Sie bitte.« Der schüchterne,