Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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      Dann war Rechenstunde.

      Annemarie lernte darin allerlei. Erstens, daß man sich nur mit dem Zeigefinger meldet und nicht mit allen zehn Fingerchen. Zweitens, daß man dabei nicht auf die Bank klettert. Und drittens, daß man auch seine beste Freundin während der Stunde nicht küssen darf.

      »Ach Gott,« dachte Klein-Annemarie beklommen, »wie soll ich das bloß alles behalten! Na, Fräulein sagt ja, man muß zehn Jahre in die Schule gehen, bis dahin werde ich es am Ende doch gelernt haben.«

      »Wieviel Geschwister hast du, Annemie?« unterbrach da Fräulein Hering Annemaries nachdenkliche Betrachtungen, denn es war ihr nicht entgangen, daß die Kleine mit ihren Gedanken wo anders war.

      »Gar keine Geschwester, bloß zwei Brüder, Hänschen und Kläuschen«, war die Antwort.

      »Nun passe mal auf, Annemie. Denk’ mal, deine Mama gibt einem deiner Brüder drei Äpfel und sagt, er soll jedem von euch beiden einen abgeben, wieviel behält er da übrig?«

      »Wenn sie die Äpfel Klaus gibt, alle drei, der ißt sie bestimmt allein auf und gibt uns nichts ab!« rief Doktors Nesthäkchen ohne Besinnen.

      Fräulein lachte.

      »Aber wenn sie nun die drei Äpfel deinem anderen Bruder gibt?«

      »Hänschen – na, der wird vielleicht einen halben übrigbehalten«, überlegte Annemarie.

      »Einen halben – nein, er muß doch einen ganzen übrigbehalten, wenn er euch jedem einen abgibt«, versuchte die Lehrerin ihr klarzumachen.

      Aber Nesthäkchen rief: »Nee – i bewahre, Tante Fräulein Hering, da kennen Sie den Klaus schlecht. Der stibitzt Hänschen bestimmt noch einen halben Apfel weg!«

      Da zog es die junge Lehrerin vor, ihre Rechenaufgabe lieber an einem anderen Kinde, das weniger unberechenbare Brüder hatte, zu beweisen.

      Als die Glocke wieder »klinglinglinglingling« machte, war die Schule für die zehnte Klasse zu Ende.

      Mit offenem Mäntelchen, mit falscher Matrosenmütze und dem prächtigen Tintenschnurrbart erschien Nesthäkchen unten im Schulhof, wo ihr Fräulein sie erwartete. Die war nicht sehr erbaut von dem Anblick ihres Pfleglings. Die Matrosenmütze wurde nach mehreren mißlungenen Versuchen endlich wieder richtig eingetauscht, und der Schnurrbart nach noch mißlungeneren, ihn am Brunnen fortzurasieren, schließlich geduldet.

      Nesthäkchens Mund stand dabei keinen Augenblick still. Es erzählte begeistert von der Schule und von all dem Neuen, was es gelernt.

      Auch Emilie, Margots Kindermädchen, war über das Aussehen der Kleinen entsetzt. »Das schöne, neue Kleid ganz voll Tinte; na, komm du nur nach Haus, Margot, dort setzt es sicher was!«

      Da aber lehnte Annemarie zärtlich die Wange an das mit den Tränen kämpfende Kind.

      »Weine nicht, Margotchen,« flüsterte sie, »wenn du Wichse kriegst, brauchst du bloß ganz laut zu schreien, dann komm’ ich rüber und laß mir für dich die Haue geben, denn ich bin doch schuld an den Flecken!«

      Und Arm in Arm zogen die beiden kleinen, tintenbeschmierten Freundinnen nach Haus.

      4. Kapitel

       Puppe Gerda hilft Schularbeiten machen

       Inhaltsverzeichnis

      Die winzigen Knospen drunten an den Büschen im Schulhof hatten sich in niedliche, kleine Blättchen verwandelt, und die winzigen Abc-Schützen der zehnten Klasse waren inzwischen mit ihren Kenntnissen bis zu dem u vorgedrungen. Die kleinen, zappeligen Dingerchen hatten allmählich stillsitzen und die Plappermäulchen im Zaum halten gelernt.

      Doktor Brauns Nesthäkchen allerdings fiel es noch immer recht schwer, sich an den Ernst und den Zwang der Schule zu gewöhnen. Annemarie bereitete Fräulein Hering noch manche Überraschung. Aber km ganzen war auch sie während der Schulstunden weniger beweglich geworden. Daran hatte wohl die Freundschaft mit der artigen Margot den größten Anteil, denn ein gutes Beispiel wirkt meistens besser als zehn Ermahnungen.

      Nesthäkchens Hefte, die im Anfang Landschaften, über die sich Tintenströme ergossen, geglichen hatten, wurden mit der Zeit weniger schwärzlich. Ja, es kam sogar jetzt vor, daß man schon einen Buchstaben richtig erkennen konnte. Nur die Doppellinien bereiteten dem kleinen Fräulein großen Kummer. Manchen schweren Seufzer preßten sie Klein-Annemarie aus, hin und wieder selbst Tränchen. Denn die Buchstaben, die Nesthäkchen voll Eifer malte, wollten durchaus nicht zwischen den beiden Schienen bleiben; bald reckten sie oben das Köpfchen neugierig über die Linie, bald streckten sie unten ein Beinchen heraus.

      Klein-Annemarie saß in ihrer Kinderstube am Arbeitspult und machte Schularbeiten. Die Puppen verhielten sich mäuschenstill, sie wußten, daß sie ihre kleine Mama jetzt nicht stören durften. Sogar Kurt, der Rüpel, gab sich Mühe, keinen Radau zu machen.

      Nesthäkchen hatte aber auch eine sehr schwere Aufgabe. Es mußte drei Zeilen im Rechenheft mit Achten bemalen. In jedes kleine Viereck eine Acht. Ja, darin lag eben die Schwierigkeit. Das Rechenheft war so tückisch, nicht nur Doppellinien, nein, auch noch Seitenwände für die Zahlen zu besitzen. Wie in einen Käfig mußte jede Zahl in eins der viereckigen Kästchen eingesperrt werden. Annemaries Achten ließen sich aber nicht ihre Freiheit rauben. O nein, die fügten sich ebensowenig einem Zwang wie das kleine Mädchen selbst. Lustig sprangen sie über die blaue Linienmauer hinweg, in eine der Nachbarkammern hinein. Ob die Kleine auch noch so viel predigte: »Ihr sollt doch in eurem Käfig drin bleiben – ach Gott, ihr seid aber eine ganz schreckliche Bande!«

      Dabei nahmen Annemaries Achten von Mal zu Mal an Umfang zu, die letzte war so kugelrund geworden wie das Pummelchen aus ihrer Klasse.

      Die nächste aber – hilf Himmel – die sah gar nicht mehr wie eine Acht, sondern vielmehr wie eine Zuckerbrezel aus. Und noch war die erste Zelle nicht einmal voll.

      Mit einem tiefen Seufzer ließ Nesthäkchen die Feder sinken!

      »Ihr habt’s gut, Kinder,« wandte sie sich zu ihren Puppen, die aufmerksam zu ihr hinüberblickten, »ihr braucht euch nicht mit den dämlichen Achten abzuquälen, und überhaupt nicht in die olle Schule zu gehen!«

      Die schwarze Lolo grinste über das ganze Gesicht vor Freude, daß sie sich nicht so anzustrengen brauchte, denn sie war faul und gefräßig. Mariannchen hatte wieder mal ihre Augen fest geschlossen und besah sich inwendig. Irenchen aber machte ein überlegenes Gesicht – lieber Gott, so ’n paar Zahlen, mit denen würde sie bei ihrer Klugheit schnell genug fertig werden. Nur Gerda, Annemaries Liebling, schaute sie voll Mitleid aus ihren schönen, blauen Glasaugen an, als ob sie sagen wollte: »Wenn ich dir helfen könnte, Annemie, ich tät’s ganz gewiß!«

      »Das weiß ich, Gerdachen,« rief die Kleine, die ihrem Puppenkinde, ohne daß es sprach, die Gedanken von der Stirn las, »du würdest mir gern helfen. Komm, Liebling, sieh mal, wie findest du meine Achten?« Sie nahm die Puppe auf den Arm, und nun saßen sie alle beide oben auf dem Arbeitspult und prüften, das Köpfchen auf die Seite gelegt, die Rechenarbeit.

      Gerda zog die Stirn kraus. Sie konnte bei aller Liebe für ihr Mütterchen diese unförmigen Geschöpfe wirklich nicht schön finden.

      »Ob die von Margot wohl besser sind?« Annemarie lugte durch das Kinderstubenfenster zu ihrer kleinen Freundin hinüber. Die hatte ihr Arbeitspult ebenfalls am Fenster stehen, Annemarie konnte gerade das emsig über das Heft geneigte braune Köpfchen Margots erkennen. Das hob sich nicht, schaute nicht rechts und nicht links, ließ sich weder durch die Puppen noch durch die kleinen Geschwister von der Pflicht ablenken.

      Wieder seufzte Annemarie. Wieder griff ihr tintenbeflecktes Händchen zum Federhalter. Es half nichts, wenn ihre Freundin Margot so fleißig war, durfte sie nicht faulenzen.

      »Bleib’ bei mir, Gerdachen, vielleicht geht es dann besser«, flüsterte sie. Die Puppe auf dem Schoß, so begann die