Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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früh um halb sieben – und nichts verraten, sonst verwichse ich dich doll«, so wurde das Geheimnis noch von Klaus besiegelt.

      Keins von den beiden ungehorsamen Kindern dachte an Vaters heute erst ergangenes Verbot, den Garten nicht vor dem ersten Frühstück zu verlassen. Oder vielmehr, sie wollten nicht an dasselbe denken. Die Fahrt auf dem Milchwagen war zu verlockend.

      Nur Puppe Gerda, die alles mitangehört hatte, dachte an das, was Vater gesagt hatte. Sie war sehr ärgerlich auf Klaus, daß der auch jetzt noch ihre Annemarie zu seinen Streichen verleitete. Bittend sah sie ihr kleines Mütterchen an, doch von dem ungezogenen Vorhaben abzulassen.

      Aber Annemarie achtete nicht auf ihre Gerda. Auch die kleinen, endlich wieder herausgelassenen Meergänschen lockten sie heute nicht zum Spiel. Ihre Gedanken weilten den ganzen Nachmittag bei dem Milchwagen und der großen Klingel, die sie morgen selbst in Bewegung setzen wollte.

      Als Puppe Gerda sich beim Gutenachtkuß besonders zärtlich an Klein-Annemarie schmiegte, um sie durch ihre Liebkosungen anderen Sinnes zu machen, da verstand Nesthäkchen wohl, was ihre Puppe von ihr wollte. Aber sie deckte sie schnell bis über die kleine Porzellannase mit ihrer Bettdecke zu, um Gerdas vorwurfsvolle Miene nicht sehen zu müssen.

      Als die Glocken von dem Waldkirchlein drüben bim – bam – bim – bam den neuen Morgen einläuteten, glaubte Annemarie, die Klingel des Milchwagens riefe sie schon. Mit beiden Beinchen sprang sie aus dem Bett.

      Waschen durfte sie sich des Morgens schon selbst, da Fräulein sie jeden Abend gründlich abscheuerte. Flink in das Bauernkleidchen geschlüpft und die Locken gebürstet. Mund zu spülen traute sich Annemarie nicht, weil das Gurgeln solchen Radau machte und sicherlich das sanft schlummernde Fräulein erweckt hätte. Aber sie nahm sich als reinliches Kind ihr Glas und ihre Zahnbürste mit hinunter und holte es unten am Brunnen nach.

      Die kleinen Meergänschen schienen noch alle zu schlafen. Nur Mutter Meergans schaffte in der Küche. Annemarie machte einen großen Bogen um sie herum, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte.

      Nicht lange dauerte es, da erschien auch Klaus, der Anstifter, im blauen Leinenanzug auf der Bildfläche.

      »Pst – schleiche mir nach«, flüsterte er. Wie bei dem beliebten Spiel »Weißer und Indianer«, so huschten die beiden ungezogenen Kinder am Waldsaum entlang, hinaus auf die Straße.

      Herzklopfend blieb Nesthäkchen stehen, als das Gartentor sich hinter ihr schloß.

      »Du, Klaus, wenn Vater nun böse ist und Mutti am Ende gar haut?« begann sie zögernd.

      »Haach – du olle Memme, bleib doch zu Haus, wenn du bange bist, dann bimmele ich eben allein. Aber wehe dir, wenn du klatschst!«

      Nein, Klaus sollte nicht ohne sie bimmeln! Die artige Anwandlung verflog im Nu wieder bei Nesthäkchen. Hand in Hand rannten die beiden Geschwister die Straße hinab.

      Dort unten stand bereits der weiße Milchwagen.

      Der Milchmann, ein freundliches Männlein, knallte lustig mit der Peitsche, als er seines kleinen Freundes ansichtig wurde.

      »Na, hast du dir noch Gesellschaft mitgebracht?« fragte er schmunzelnd.

      »Ja, meine kleine Schwester«, stellte Klaus großartig vor. Annemarie machte einen tiefen Knicks.

      »Also denn hoppla!« Damit hob der Milchmann die Kleine auf den Bocksitz. Klaus, stolz seine Hilfe verschmähend, kletterte selbständig hinterdrein. Der Junge bekam die Peitsche zum Knallen, Annemarie – o Glück – die große Klingel.

      Klinglingling – lustig bimmelte Annemarie vor jedem Hause. Klinglingling – der Milchjunge kommt! Wie der Wind war Klaus mit den blanken Blechkannen in der Küche und wieder zurück.

      Klinglingling – durch ganz Johannisbad ging’s in fröhlicher Fahrt. Kein Gedanke flog mehr zurück zu Vater und Mutti, die sie durch ihren Ungehorsam so betrübten. Nesthäkchen jauchzte und strahlte vor Glück.

      Manch erstaunter Blick der zu dieser frühen Stunde zum Bad oder zum Brunnen gehenden Kurgäste streifte den Milchwagen mit dem reizenden kleinen Bauernmädel, das aus Leibeskräften bimmelte.

      Jetzt hielt der weiße Wagen vor einer Villa, in der ein Berliner Kollege von Vater wohnte.

      Nichts Böses ahnend, trug Klaus seine Milch ins Haus.

      Da begegnete ihm gerade der Bekannte von Vater.

      »Hör’ mal, Junge, das geht aber nicht, daß du so spät die Milch bringst, man muß ja ewig auf den Kaffee warten! Morgen komm mal gefälligst ein bißchen früher«, sagte er ärgerlich, denn er hatte nach dem Baden Kaffeedurst.

      Klaus starrte den bekannten Herrn, der sonst immer so freundlich mit ihm zu scherzen pflegte, verdutzt an.

      Da wurde dieser auf den vermeintlichen Milchjungen aufmerksam.

      »Nanu, Klaus Braun, bist du jetzt Milchjunge in Johannisbad? Hahaha – der Witz ist gut!«

      Aber Klaus hatte bereits Fersengeld gegeben, er schämte sich halbtot vor Vaters Kollegen und außerdem – o je, nun kam die Geschichte bestimmt heraus!

      Eilig brachte er seine leeren Blechkannen zurück und zog das Schwesterchen von seinem hohen Sitz herab.

      »Komm, wir müssen nach Haus, und – und ich habe auch keine Lust mehr!«

      Annemarie war durchaus einverstanden. Das Wort »nach Hause« hatte plötzlich ihr Gewissen wieder geweckt. Sie empfand es mit einemmal, wie ungezogen es von ihnen war, ohne daß die Eltern es wußten, mit dem Milchwagen davonzufahren. Und dann war auch der Annemarie, während Klaus die Milch austrug, ein erschreckender Gedanke gekommen.

      Wenn nun Rübezahl sich in einen Milchmann verwandelt hätte, um sie zu prüfen, ob sie gehorsame oder ungehorsame Kinder seien? In dem Märchenbuch tat er doch oft dergleichen. Scheu blickte die Kleine auf den harmlosen Milchmann, der so freundlich mit ihr sprach. Nein, nein, am Ende fuhr er sie zum Schluß gar in die Erde, hinein in sein Bergreich – lieber flink nach Haus!

      Im tollen Galopp ging es heim.

      Vater und Mutter traten eben erst an den Kaffeetisch, als die beiden mit erhitzten Gesichtern anlangten.

      »Na, Lotte, schon so früh herumgetobt?« Mutti strich ihrem Nesthäkchen liebevoll die Locken aus der heißen Stirn.

      Ach, wie wenig hatte sie doch Muttis Zärtlichkeit verdient! Annemarie empfand ihr Unrecht jetzt doppelt und dreifach.

      Die Kleine, die sonst solchen guten Appetit hatte, würgte heute an ihrem Kipfel, so heißen die Hörnchen in Johannisbad.

      »Nanu, Lotte, bist du auch gesund?« forschte der Arzt, sein erglühendes Töchterchen prüfend anschauend. Hatte das Kind am Ende Fieber?

      »Ja, ganz gesund, nur – nur, es preßt mich so im Halse«, stieß Nesthäkchen heraus.

      »Im Halse – du hast Halsschmerzen, Liebling?« fiel Mutti jetzt besorgt ein.

      »Nee – nee, es tut nicht weh, es preßt nur so, weil – weil ich so schrecklich ungezogen gewesen bin!« So, nun war es heraus, die schwere Last herunter von dem kleinen Herzen – gottlob!

      Mutti fragte nicht. Sie sah ihr Töchterchen nur betrübt an. Ach, wie gern hätte Klein-Annemarie jetzt ihr ganzes Unrecht eingestanden, aber sie hatte doch Klaus versprochen, ihn nicht zu verklatschen.

      Bei dem jedoch regte sich nun auch das Gewissen. Außerdem würde Vaters Kollege es ja doch erzählen. Da war es schon besser, er gestand es lieber selbst ein.

      »Wir sind mit dem Milchwagen mitgefahren, ich habe Milch ausgetragen, und Annemarie hat dazu gebimmelt«, erzählte er ein wenig unsicher.

      »Was habt ihr?« Die Eltern glaubten, nicht recht gehört zu haben.

      »Wir wollen es ja nicht wieder tun – nie mehr!« jammerte Nesthäkchen los.

      »Na, das sind ja recht nette Sachen!« sagte Vater und sah seine