Else Ury

Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)


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saß und Netze strickte.

      »Ach, können Sie mir vielleicht sagen, wo die ›Königin Luise‹ hingekommen ist?« fragte Annemarie, höflich grüßend.

      Der Fischer sah nicht von seiner Arbeit auf. Nur mit dem breiten Daumen machte er eine überwendliche Bewegung nach dem Meer zu.

      Daraus konnte die Kleine nicht klug werden. Sie wiederholte ihre Frage noch einmal mit erhobener Stimme, denn am Ende war er schwerhörig. Außerdem rauschte das Meer auch so laut, besonders für ungewohnte Ohren, daß man kaum sein eigenes Wort verstand. Wieder drehte sich der breite Daumen nach dem Meer zu. Stumm strickte der Alte seine Netze weiter.

      Zum Glück kam Mutti jetzt heran.

      »Ist die ›Königin Luise‹ schon wieder abgegangen?« fragte sie.

      »Woll«, der Alte sah nicht hoch.

      Da aber traf ein so schmerzliches Weinen sein Ohr, daß er mitten in der Arbeit innehielt und ganz verwundert aufschaute.

      »Meine Gerda – meine süße Gerda –« beide Arme streckte das kleine Mädchen nach dem mitleidslos seine eintönige Melodie weitersingenden Meer aus.

      »Is was passiert – is sei ertrunken?« Jetzt kam Leben in das vom Alter stumpf gewordene Gesicht des Alten.

      »Nee – aber sie steckt noch in dem Tranmantel von dem Matrosen Willem – – –« weinte es weiter.

      »Ih – da bringt er dat Kinding dat nächste Mal retour, da brukst (brauchst) du nich tau weinen. And tau eten (zu essen) un tau trinken, dat gewen sei ehr up dat Schiff –«

      Der alte Fischer brach ganz verdutzt mitten in seiner Trostrede ab. Helles Lachen erschallte plötzlich aus dem Kindermund, der sich noch soeben zum Weinen verzogen. Der Alte schüttelte seinen kahlen Kopf. Er hatte es in den vielen, vielen Jahren vergessen, daß junge Kinder Lachen und Weinen in einem Sack haben. Die Fischerleute hier an der Nordsee, die er kannte, lachten und weinten überhaupt kaum. Die waren wortkarg, ernst und schwer wie das Meer, das ihnen die Wiegenlieder gesungen. Und kamen ihnen doch mal die Tränen, dann flossen sie langsam und stet, immer wieder sich erneuernd, wie das Meer.

      »Gerda ist doch kein Kind, die kann ja nicht essen und trinken, die ist ja meine Puppe«, Annemarie mußte noch immer lachen.

      »Ih, denn is dat jo nich so slimm«, der alte Fischer wandte sich in aller Gemütsruhe wieder seiner Strickarbeit zu.

      »Wann legt die ›Königin Luise‹ hier wieder an?« mischte sich jetzt Frau Doktor Braun, die bisher ganz in die wundersame Schönheit des Meeres und der hohen, sich meilenweit hinziehenden Dünen vertieft gewesen, in das Gespräch.

      »Jo – dat wird woll nich vor drei Dagen sünd.«

      »Und um wieviel Uhr kommt das Schiff immer an, damit wir uns zur Zeit hier wieder einfinden?«

      Der Alte kratzte sich bedenklich seinen kahlen Schädel.

      »Je, dat is mal so un mal so – – –«

      »Aber lieber Mann, das Schiff muß doch fahrplanmäßig eintreffen«, wandte Frau Doktor Braun ein.

      »Nee, dat ännert sich alle Dag mit de Flut.«

      »Ach so«, daran hatte die Dame nicht gedacht. »Würden Sie dann vielleicht so freundlich sein und sich die Puppe meines Töchterchens von dem Matrosen Willem einhändigen lassen, wenn das Schiff wieder anlegt – Sie kennen ihn doch?«

      »Woll – woll – is ’n fixer Jung. Jo – jo, dat will ick girn dun, ick lat mi de Popp gewen (ich lasse mir die Puppe geben) –« ein leises Schmunzeln flog über das wetterharte Gesicht des alten Fischers.

      »Ach, wenn Sie das tun wollten!« rief Nesthäkchen getröstet. »Und grüßen Sie doch bitte Willem vielmals von mir, und ich laß ihm auch schön dafür danken, daß er neulich so nett zu mir war« – Annemarie reichte dem Fischer dankbar ihre Hand hin.

      Der nahm das zarte, dünne Händchen behutsam zwischen seine verschrumpelten Finger. Einen Augenblick sah er Annemarie mit feinen tiefliegenden Augen in das schmale Gesicht und murmelte wie zu sich selbst: »Dat möt annere Backen hier kregen!« Dann wandte er sich wieder seinen Netzen zu, als ob niemand mehr neben ihm stände.

      Auch der freundliche Abschiedsgruß der Dame und ihrer kleinen Tochter fand keine Erwiderung mehr.

      »Glaubst du, Mutti, daß der daran denken wird, meine Gerda abzuholen? Er ist schon mächtig alt, bestimmt schon hundert Jahre, da hat er am Ende ein schlechtes Gedächtnis«, meinte Annemarie zweifelhaft, während sie neben ihrer Mutter durch den weichen Sand landeinwärts stampfte.

      Auch Frau Doktor Braun war die Sache nicht ganz einleuchtend. Aber sie mochte ihr Nesthäkchen nicht aufs neue beunruhigen.

      »Das beste ist, wir gehen selbst wieder an den Steg hinunter, wenn das Schiff ankommt«, überlegte die Kleine weiter.

      »Das wird schlecht gehen, Lotte. Das Schiff kommt hier in Norddorf an, das im Norden der Insel Amrum liegt. Wittdün dagegen ist auf der Südspitze der Insel gelegen. Dorthin fahren wir jetzt erst«, erklärte ihr die Mutter.

      Nesthäkchen machte ein erstauntes Gesicht, es hatte geglaubt, sich bereits in Wittdün zu befinden.

      Während Puppe Gerda einsam und verlassen wieder Hamburg zusegelte, fuhr Annemarie und ihre Mutter mit der elektrischen Inselbahn ihrer neuen Heimat zu.

      Vorbei an niedrigen Bauernhäuschen mit merkwürdigen Giebeln und leuchtend weißen Fensterkreuzen ging die Fahrt.

      »Das sind alte Friesenhäuser«, erzählte die Mutter ihrer aufhorchenden Lotte.

      »Friesen – was ist denn das? Ist das sowas wie Frieseln? Das hat mal eine in unserer Klasse gehabt, aber es ist nicht so schlimm wie Scharlach«, das Doktortöchterchen wußte mit Krankheiten gut Bescheid.

      »Nein, Lotte«, Mutter lachte. »Friesen ist ein altes Germanenvolk, dessen Überreste hier auf den Nordseeinseln leben. Schau, Kind, überall diese bezaubernden Durchblicke zum Meere hin – und eine Luft, so rein und staubfrei hier mußt du dich erholen, meine Lotte. Atme mal ganz tief!«

      Nesthäkchen steckte den Blondkopf aus dem offenen Bahnfenster und schnüffelte gehorsam wie Puck hinaus.

      »Liefere ich dich nun erst im Kinderheim ab, Lotte, oder suche ich mir erst Wohnung?« überlegte die Mutter.

      »Wa–as? Du willst mich abliefern – ja, wohnen wir denn nicht zusammen, Mutti? Solange du hier bist, kann ich doch noch bei dir sein!« Krampfhaft umklammerte Nesthäkchen, ungeachtet der Mitfahrenden, den Arm der Mutter. Schon begann es um den Kindermund verräterisch zu zucken.

      »Lotte – Lotte, du wirst doch nicht weinen, du großes Mädel, du hast doch Vater versprochen, es mir nicht schwer zu machen. Du sollst dich in der Kinderpension einleben, solange ich noch hier bin. Sonst weiß ich ja gar nicht, ob es dir dort gefällt, oder ob du dich heimbangst.«

      »Aber wenn ich mich heimbange, Mutti, ganz schrecklich bange – wenn ich vielleicht wieder krank werde vor lauter Sehnsucht, dann läßt du mich doch nicht hier, nicht wahr? Dann nimmst du mich doch wieder mit nach Haus?« in grenzenloser Aufregung hingen die Kinderaugen an dem Gesicht der Mutter.

      »Wenn es dir ganz und gar nicht im Kinderheim gefällt, Lotte,« meinte diese zögernd, »müßte ich es in Erwägung ziehen. Denn man erholt sich nur dort, wo man sich wohlfühlt. Ich hoffe aber, daß meine große Tochter sich alle Mühe geben wird, sich gut einzuleben«, setzte sie noch ernst hinzu.

      Diese Mahnung war durchaus angebracht. Denn ihr Nesthäkchen wurde rot und sah ein bißchen unsicher an der Mutter vorbei. Das schlaue kleine Fräulein hatte sich soeben fest vorgenommen, daß es sich auf keinen Fall im Kinderheim wohlfühlen wollte. Nein – und wenn es noch so hübsch dort war. Dann würde Mutti sie wieder mit nach Berlin nehmen. Nur dumm, daß eine Mutter auch die geheimsten Gedanken ihres Kindes errät.

      Die Bahn hatte nun ihr Endziel erreicht. Annemarie hatte sich inzwischen dafür