jeder mit Nachteil entbehrt hatte. Noch weit an die Alm hinauf wurden Großvater und Kind von den meisten begleitet, und beim Abschied wollte jeder die Versicherung haben, dass der Alm-Öhi bald einmal bei ihm vorspreche, wenn er wieder herunterkomme; und wie nun die Leute den Berg hinab zurückkehrten, blieb der Alte stehen und schaute ihnen lange nach, und auf seinem Gesichte lag ein so warmes Licht, als schiene bei ihm die Sonne von innen heraus. Heidi schaute unverwandt zu ihm auf und sagte ganz erfreut: "Großvater, heut wirst du immer schöner, so warst du noch gar nie."
"Meinst du?", lächelte der Großvater. "Ja, und siehst du, Heidi, mir geht's auch heut über Verstehen und Verdienen gut, und mit Gott und Menschen im Frieden stehen, das macht einem so wohl! Der liebe Gott hat's gut mit mir gemeint, dass er dich auf die Alm schickte."
Bei der Geißenpeter-Hütte angekommen, machte der Großvater gleich die Tür auf und trat ein. "Grüß Gott, Großmutter", rief er hinein; "ich denke, wir müssen einmal wieder ans Flicken gehen, bevor der Herbstwind kommt."
"Du mein Gott, das ist der Öhi!", rief die Großmutter voll freudiger Überraschung aus. "Dass ich das noch erlebe! Dass ich Euch noch einmal danken kann für alles, das Ihr für uns getan habt, Öhi! Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!"
Und mit zitternder Freude streckte die alte Großmutter ihre Hand aus, und als der Angeredete sie herzlich schüttelte, fuhr sie fort, indem sie die seinige fest hielt: "Und eine Bitte hab ich auch noch auf dem Herzen, Öhi: Wenn ich Euch je etwas zuleid getan habe, so straft mich nicht damit, dass Ihr noch einmal das Heidi fortlasst, bevor ich unten bei der Kirche liege. Oh, Ihr wisst nicht, was mir das Kind ist!", und sie hielt es fest an sich, denn Heidi hatte sich schon an sie geschmiegt.
"Keine Sorge, Großmutter", beruhigte der Öhi; "damit will ich weder Euch noch mich strafen. Jetzt bleiben wir alle beieinander und, will's Gott, noch lange so."
Jetzt zog die Brigitte den Öhi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke hinein und zeigte ihm das schöne Federnhütchen und erzählte ihm, wie es sich damit verhalte, und dass sie ja natürlich so etwas einem Kinde nicht abnehme.
Aber der Großvater sah ganz wohlgefällig auf sein Heidi hin und sagte: "Der Hut ist sein, und wenn es ihn nicht mehr auf den Kopf tun will, so hat es Recht, und hat es ihn dir gegeben, so nimm ihn nur."
Die Brigitte war höchlich erfreut über das unerwartete Urteil. "Er ist gewiss mehr als zehn Franken wert, seht nur!", und in ihrer Freude streckte sie das Hütchen hoch auf. "Was aber auch dieses Heidi für einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe schon manchmal denken müssen, ob ich nicht den Peterli auch ein wenig nach Frankfurt schicken solle; was meint Ihr, Öhi?"
Dem Öhi schoss es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es könnte dem Peterli nichts schaden; aber er würde doch eine gute Gelegenheit dazu abwarten.
Jetzt fuhr der Besprochene eben zur Tür herein, nachdem er zuerst mit dem Kopf so fest dagegen gerannt war, dass alles erklirrte davon; er musste pressiert sein. Atemlos und keuchend stand er nun mitten in der Stube still und streckte einen Brief aus. Das war auch ein Ereignis, das noch nie vorgekommen war, ein Brief mit einer Aufschrift an das Heidi, den man ihm auf der Post im Dörfli übergeben hatte. Jetzt setzten sich alle voller Erwartung um den Tisch herum, und Heidi machte seinen Brief auf und las ihn laut und ohne Anstoß vor. Der Brief war von der Klara Sesemann geschrieben. Sie erzählte Heidi, dass es seit seiner Abreise so langweilig geworden sei in ihrem Hause, sie es nicht lang hintereinander so aushalten könne und so lange den Vater gebeten habe, bis er die Reise ins Bad Ragaz schon auf den kommenden Herbst festgestellt habe, und die Großmama wolle auch mitkommen, denn sie wolle auch das Heidi und den Großvater besuchen auf der Alm. Und weiter ließ die Großmama noch dem Heidi sagen, es habe Recht getan, dass es der alten Großmutter die Brötchen habe mitbringen wollen, und damit sie diese nicht trocken essen müsse, komme gleich der Kaffee noch dazu, er sei schon auf der Reise, und wenn sie selbst nach der Alm komme, so müsse das Heidi sie auch zur Großmutter führen.
Da gab es nun eine solche Freude und Verwunderung über diese Nachrichten und so viel zu reden und zu fragen, da die große Erwartung alle gleich betraf, dass selbst der Großvater nicht bemerkte, wie spät es schon war, und so vergnügt und fröhlich waren sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und fast noch mehr in der Freude über das Zusammensein an dem heutigen, dass die Großmutter zuletzt sagte: "Das Schönste ist doch, wenn so ein alter Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, so wie vor langer Zeit; das gibt so ein tröstliches Gefühl ins Herz, dass wir einmal alles wieder finden, was uns lieb ist. Ihr kommt doch bald wieder, Öhi, und das Kind morgen schon?"
Das wurde der Großmutter in die Hand hinein versprochen; nun aber war es Zeit zum Aufbruch, und der Großvater wanderte mit Heidi die Alm hinan, und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern sie heruntergerufen hatten, so begleitete nun aus dem Tale herauf das friedliche Geläut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen Almhütte, die ganz sonntäglich im Abendschimmer ihnen entgegenglänzte.
Wenn aber die Großmama kommt im Herbst, dann gibt es gewiss noch manche neue Freude und Überraschung für das Heidi wie für die Großmutter, und sicher kommt auch gleich ein richtiges Bett auf den Heuboden hinauf, denn wo die Großmama hintritt, da kommen alle Dinge bald in die erwünschte Ordnung und Richtigkeit, nach außen wie nach innen.
Heidi kann brauchen, was es gelernt hat
Es geschieht, was keiner erwartet hat
Es wird Abschied genommen, aber auf Wiedersehen
Reisezurüstungen
Der freundliche Herr Doktor, der den Entscheid gegeben hatte, daß das Kind Heidi wieder in seine Heimat zurückgebracht werden sollte, ging eben durch die breite Straße dem Hause Sesemann zu. Es war ein sonniger Septembermorgen, so licht und lieblich, daß man hätte denken können, alle Menschen müßten sich darüber freuen. Aber der Herr Doktor schaute auf die weißen Steine zu seinen Füßen, so daß er den blauen Himmel über sich nicht einmal bemerken konnte. Es lag eine Traurigkeit auf seinem Gesichte, die man vorher nie da gesehen hatte, und seine Haare waren viel grauer geworden seit dem Frühjahr. Der Doktor hatte eine einzige Tochter gehabt, mit der er seit dem Tode seiner Frau sehr nahe zusammen gelebt hatte und die seine ganze Freude gewesen war. Vor einigen Monaten war ihm das blühende Mädchen durch den Tod entrissen worden. Seither sah man den Herrn Doktor nie mehr so recht fröhlich, wie er vorher fast immer gewesen war.
Auf den Zug an der Hausglocke öffnete Sebastian mit großer Zuvorkommenheit die Eingangstür und machte gleich alle Bewegungen eines ergebenen Dieners; denn der Herr Doktor war nicht nur der erste Freund des Hausherrn und dessen Töchterchen, durch seine Freundlichkeit hatte er sich, wie überall,