Joachim Ringelnatz

Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band)


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an Kammerherrn Professor Stanislaus Graf von Kalckreuth, ferner von Ernst von Sachsen-Meiningen. Akten weit zurückliegender Zeit, mit handschriftlichen Randbemerkungen berühmter Leute.

      Der Graf lud mich zum Abendessen ein. Ich mochte nicht sagen, daß ich schon bei der Villa-Gräfin gegessen hatte, der gütigen Dame, die in Trauer ging und allgemein beliebt war. Sie war eine Schwester des Malers Graf Leopold von Kalckreuth.

      Ich war recht fleißig, aber mein Mangel an Geschichts- und Sprachkenntnissen machte mir zur schaffen, und ich wollte mir doch vor den klugen Leuten und klugen Kindern möglichst keine Blöße geben. Es kam noch hinzu, daß ich oft kein Geld hatte, weil das wenige, was ich mir durch Schriftstellerei nebenher verdiente, nicht ausreichte.

      Die Kinder weckten mich mit einem Ständchen. Sie trugen Tannenreiser mit buntem Papier verziert und sangen ein altertümliches Bettellied, wofür ich ihnen Pralinen schenkte. Die beiden Jungen des Grafen, Brüder und Peter, hatten Infanterieuniformen an und ritten auf ihren Ponys spazieren. Ich traf sie hinterm Park. Wir trieben Jux, indem ich vor ihnen entfloh und sie mich mit ihren Pferdchen zu überrennen suchten. Es waren nette Bengels. Der ältere, Brüder, konnte jähzornig werden. Peter war besonders drollig.

      Nachts saß ich mit dem gräflichen Stenographen Albrecht und dem Sekretär Paul Neugebauer noch lange in trockener Arbeit über dem Gesetzentwurf betr. Anlegung von Sparkassenbeständen in Inhaberpapieren.

      Die Hofmeisterin der Kronprinzessin, eine Exzellenz von Alvensleben, kam zu Besuch.

      Ich hatte auf die Beleuchtung meines Korridors verzichtet. Besuchte mich nun jemand auf meinem Zimmer, um ein Buch von mir zu leihen oder eine Auskunft einzuholen, so wiederholte sich oft folgendes: Feste Schritte nahten. Je näher sie kamen, desto unsicherer wurden sie. Plötzlich ein Anprall, und dann laut geschimpft »Der verfluchte Voltaire!«

      Von den Kindern war Daja mein Liebling. In ihrem Aufsatz stand der Satz, »Der Biß der Kreuzotter tötet den Menschen, aber dem Igel tut das nichts.« Daja brachte mir Tulpen vom Gärtner. Ich baute und schenkte ihr »Das lustige Pferd«.

      Jeden Morgen war etwas Neues grün. Die leuchtenden Wiesenstriche bekamen bunte Krokusflecken.

      Neugebauer konnte sehr jähzornig werden. Zu Hause warf er dann mit Gegenständen, Tellern, Löffeln und dergleichen. Seine Frau paßte gut zu ihm. Sie besaß die Kunstfertigkeit aufzufangen. Infolgedessen nahm sich ein Wutausbruch im Hause Neugebauer wie eine artistische Nummer aus und verlief immer harmlos.

      Meine Arbeit war sehr interessant. Ich ordnete den Nachlaß des Philosophen Wilhelm Dilthey, seltene Bilder und Zeitschriften kamen mir in die Hände. Ich durchblätterte verschnörkelte Dekrete, Patente, Urkunden, auf Seide gedruckte Widmungen. Der Kutscher kam zu mir, erbat sich ein Pferdearzneibuch.

      Otto und ich schossen Mistelsträuße von den Akazien. Die Villa-Gräfin lud mich zum Tee ein. Ich spielte mit den Kindern. Sie besaßen alles Spielzeug, was es damals gab. Einmal im Jahr mußten die Knaben mit Bleisoldaten in einem besonderen Zimmer die Schlacht bei Leipzig aufführen, und zwar nach Stellung, Regimentern usw. streng historisch.

      Tietzefreund, der wundervolle Diener, war mir zugetan. Er tat mir oft sehr leid, wenn der Graf ihn bei Tisch wie einen dummen Jungen abkanzelte. Tietzefreund hatte den Grafen schon betreut, als dieser noch ein Kind war.

      Ich erhielt 50 Mark vom Grafen angewiesen, als Entschädigung für meine Reisespesen. Das kam mir sehr gelegen.

      Püzze war die älteste Komteß, 13 Jahre alt. Sie brachte mir den Text des Sommersingeliedes, das man mir vor kurzem als Ständchen vorgesungen hatte.

      Rot' Gewand, schöne grüne Linde,

      Suchen wir, suchen wir, wo wir etwas finde.

      Gehn wir in den grünen Wald,

      Da singen die Vöglein jung und alt,

      Da singen ihre Stimm':

      Frau Wirtin, sind Sie drin?

      Sind Sie drin, so kommen Sie 'raus,

      Bringen Sie uns ein Trinkgeld 'naus.

      Wir können nicht lange stehn,

      Wir müssen weitergehn.

      Rote Rosen, rote blühn auf einem Stengel;

      Der Herr ist schön, der Herr ist schön,

      Die Frau ist wie ein Engel.

      Der Herr, der hat 'ne hohe Mützen,

      Die hat er voll Dukaten sitzen.

      Er wird sich wohl bedenken,

      Zum Sommer uns was schenken.

      Die goldene Kette geht um das Haus.

      Die schöne Frau Wirtin geht ein und aus.

      Sie hat 'ne weiße Haube,

      Ist schön wie eine Taube.

      Weiße Fischlein, weiße,

      Schwimmen in einem Teiche.

      Der Herr ist schön, der Herr ist schön,

      Die Frau ist wie 'ne Leiche.

      Sie werden sich wohl bedenken,

      Zum Sommer uns was schenken.

      Mit den jüngeren Kindern trieb ich allerlei Scherze. Sie waren so verwöhnt, daß nur ein neuer Einfall sie noch interessierte und auch nur so lange, wie er eben neu war. Komteß Devy überbrachte mir geheimnisvoll ein Paket, das Veilchen enthielt. Irgendwo spürte ich doch die Kinderseelen, die so gefährlich mit einem Wust von Äußerlichkeiten und Wissenschaft überschüttet wurden.

      Ich stand in der Bibliothek in meinem Staubmantel und blätterte gerade in der ersten Nummer des »Morgenblattes für gebildete Stände«, wo ich ein geistvolles Vorwort von Jean Paul fand. Otto gesellte sich zu mir und klagte mir sein Leid. Er war mit Brüder und Rentmeisters Hans in Ohlau gewesen, wo diese seine Schüler ihr Examen machen sollten. Beide waren aber zum großen Kummer der Gräfin durchgefallen. Der Graf selber war derzeit verreist.

      Püzze lud Fräulein Pönitz, Otto und mich zum Kaffee ein. Für die Kinder war etwas abseits ein kleines zweistöckiges Häuschen erbaut, Schwäbische Hütte genannt. Unten war eine komplette Kinderküche darin, alles Gerät schwäbisch und blank im Kinderformat, aber so, daß sie damit richtig kochen konnten. So gaben sie uns Erwachsenen mitunter dort ein Essen. Die Spiele, die sie sonst trieben, waren alle klug und mit Wissen verbunden. Ich fing eine Depesche auf, von Daja an Hans Dannenberg gerichtet: »Habe von Ihrer Flotte gehört und habe auch gehört, daß General Tulubu Seeräuber besiegt hat, und freue mich, daß er es so gut versteht. Mit Gruß Friedrich I.R.« Ich las den Kindern das »Wirtshaus im Spessart« vor und unterhielt sie mit Zauberkunststücken. Abends spielte ich mit dem Rentmeister Schach. Er hatte den Gesundheitsspleen, turnte nackt, aß nach Gesundheitsregeln und sprach immer nur über seine Gesundheit. Mit Apicius' Kochbuch, das ich ihm lieh, wußte er nichts anzufangen.

      Irgendeine Hausdame feierte Geburtstag. Peter hatte ihr von seinem Taschengeld eine Brosche für zwanzig Pfennig gekauft. Er ging überall herum und fragte jeden: »Findest du sie schön?«

      Otto war entlassen. Er war noch in letzter Nacht total betrunken in einen Kupferstich gestolpert. Der neue Hauslehrer kam, Herr Rommel, ein biederer jüngerer Herr. Ich führte ihn umher, zeigte ihm das Schloß, den Park, auch die großen Stallungen. Die Rinder hatten Namen, die je nach der Jahresklasse mit einem bestimmten Buchstaben anfingen. Also z.B. mit »M«: Mirabeau, Marc Aurel, Molière, Miltiades, meist lateinische Namen. Die Zuchtbullen erhielten Namen von griechischen Wüstlingen, Alcibiades, Dikäopolis, Alkmaion usw.

      »Was macht denn Penelope?« fragte der Graf eine Kuhmagd.

      »Was? Wer? Wa?«

      »Was macht Penelope?« wiederholte der Graf.

      »Wer? Wa?« – Die Magd begriff nicht. Der Graf wetterte über die Dummheit der Person. Bis der Inspektor hinzukam und der Magd erklärte, daß der Graf die kranke Kuh meine.