Sandra Cisneros

Das Haus in der Mango Street


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Carmen Abrego, Denise Chávez, Helena Viramontes – bis dahin, Normita, hatten wir keine Ahnung, dass das, was wir taten, außergewöhnlich war.

      Ich wohne nicht mehr in Chicago, aber Chicago wohnt immer noch in mir. Ich habe Geschichten über die Stadt, die noch immer darauf warten, aufgeschrieben zu werden. So lange diese Geschichten in mir strampeln, wird Chicago Heimat sein.

      Ich habe schließlich eine Stelle in San Antonio angenommen. Bin von dort wieder weggezogen. Dann zurückgezogen. Und wieder weggezogen. Die niedrigen Mietpreise haben mich immer wieder hierhergelockt. Für eine Schriftstellerin ist eine erschwingliche Wohnung das A und O. Nach einiger Zeit konnte ich mir sogar mein erstes eigenes Haus leisten, ein hundert Jahre altes Gebäude, das einmal lavendelblau gestrichen war, aber jetzt in sattem Rosa erstrahlt.

      Vor zwei Jahren ist im Hinterhof, in Erinnerung an Mexiko, mein Arbeitszimmer entstanden, die Außenwand in kräftigem Gelb, die Innenwände in zartem Lila. Genau hier schreibe ich gerade diese Zeilen. Von der Terrasse her weht der Klang von Windspielen. In der Ferne rattern ununterbrochen Züge, das ganze Viertel ist voller Züge. Derselbe San Antonio River, den Touristen vom River Walk kennen, schlängelt sich hinter meinen Haus zu den Missions und weiter bis zum Golf von Mexiko. Von meiner Terrasse aus kann man die S-Kurve des Flusses sehen.

      Weiße Kraniche schweben durch die Lüfte, wie mit Öl auf Leinwand gebannt. Der Fluss teilt sich das Land mit Enten, Waschbären, Opossums, Stinktieren, Bussarden, Schmetterlingen, Falken, Schildkröten, Schlangen und Eulen, und dabei ist die Innenstadt nur ein Katzensprung entfernt. Und innerhalb der Umzäunung meines Gartens gibt es noch eine ganze Menge anderer Lebewesen – glückliche Hunde, Kamikazekatzen und ein liebeskranker Papagei, der sich in mich verguckt hat.

      Das ist mein Haus.

      Glückseligkeit.

      24.Oktober 2007. Du kommst mich aus Chicago besuchen, Mama. Du willst nicht kommen. Aber ich bestehe darauf. Du verlässt dein Haus nur noch ungern, du sagt, du hättest Rückenschmerzen, aber ich dulde keinen Widerspruch. Ich habe dieses Arbeitszimmer neben dem Fluss genauso für dich wie für mich gebaut, und ich möchte, dass du es dir anschaust.

      Vor Jahren hast du mich mal angerufen und mit Nachdruck gesagt: »Wann richtest du dir endlich ein Arbeitszimmer ein? Ich habe gerade Isabel Allende im Fernsehen gesehen, und sie hat einen GROSSEN Schreibtisch und ein RIESIGES Arbeitszimmer.« Du warst verärgert, weil ich wieder wie früher am Küchentisch schrieb.

      Und jetzt, sieh her, auf dem Dach eines safrangelben Gebäudes mit Blick auf den Fluss, ein Ort zum Schreiben, ganz für mich allein. Wir steigen hoch in mein Arbeitszimmer über der Bibliothek und hinaus auf den Balkon, wo man auf den Fluss schaut.

      Du musst kurz verschnaufen. Am gegenüberliegenden Ufer stehen Industriebauten – verlassene Getreidespeicher und Silos –, aber sie sind so wettergegerbt und verrostet, dass sie ihren ganz eigenen Charme versprühen, wie Skulpturen auf öffentlichen Plätzen. Nachdem du wieder zu Atem gekommen bist, setzen wir den Aufstieg fort.

      Besonders stolz bin ich auf die Wendeltreppe hoch aufs Dach. Von so einer habe ich immer geträumt, wie in den mexikanischen Häusern. Sogar das spanische Wort ist wunderschön – un caracol – eine Schnecke. Unsere Schritte hallen auf den Metallstufen wider, und die Hunde sind uns so dicht auf den Fersen, dass wir sie schelten müssen.

      »Dein Arbeitszimmer ist größer als auf den Fotos, die du geschickt hast«, sagst du erfreut. Wahrscheinlich vergleichst du es mit dem von Isabel Allende.

      »Wo hast du die Vorhänge in der Bibliothek her? Die haben doch bestimmt einen Haufen Geld gekostet. Wie schade, dass dir deine Brüder nicht die Stühle aufpolstern konnten, da hättest du ordentlich gespart. Junge, ist das schööön hier!«, sagst du, und deine Stimme zwitschert dabei wie die Stärlinge am Fluss.

      Ich rolle Yogamatten auf der Dachterrasse aus, und mit gekreuzten Beinen sitzen wir da und sehen uns den Sonnenuntergang an. Wir trinken deinen italienischen Lieblingssekt, zur Feier deiner Ankunft und zur Feier meines Arbeitszimmers.

      Ruckzuck nimmt der Himmel die Nacht in sich auf und verfärbt sich zwetschgenlila. Ich liege auf dem Rücken und beobachte, wie die Wolken vorbeirauschen, um nach Hause zu kommen. Zaghaft lugen die Sterne hervor, einer nach dem anderen. Du legst dich neben mich und stellst ein Bein über meins, wie bei dir zu Hause, wenn wir in einem Bett schlafen. Wir schlafen immer in einem Bett, wenn ich zu Besuch bin. Vor allem, weil es kein zweites Bett gibt. Aber später, nachdem Papa gestorben ist, auch weil du mich einfach in der Nähe haben möchtest. Das sind die einzigen Momente von Zuneigung, die du dir gewährst.

      »Wie wäre es, wenn wir zu Weihnachten alle hierher einladen?«, frage ich. »Was hältst du davon?«

      »Mal sehen«, sagst du gedankenversunken.

      Der Mond klettert die Prosopis im Vorgarten herauf, erklimmt die Terrassenkante und versetzt uns in Erstaunen. Vollmond, ein riesiger Nimbus, wie auf einem Holzschnitt von Yoshitoshi. Von nun an werde ich bei jedem Vollmond an dich und diesen Moment denken müssen. Aber das weiß ich jetzt noch nicht.

      Du schließt die Augen. Du siehst aus, als würdest du schlafen. Der Flug muss dich erschöpft haben. »Zum Glück hast du studiert«, sagst du, ohne die Augen zu öffnen. Du meinst mein Arbeitszimmer, mein Leben.

      Ich erwidere: »Zum Glück.«

      Für meine Mutter, Elvira Cordero Cisneros

      11. Juli 19291. November 2007

      26. Mai 2008

      Casa Xóchitl, San Antonio de Béxar, Texas

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