gewesen.
„Hast du ihn?“ rief Reni halblaut. Dann rappelte sie sich auf.
„Hat’s weh getan?“ fragte Erika ängstlich.
„Ach wo – doch, ganz ordentlich“, verbesserte sich Reni und hielt sich den Kopf, denn das „Ach wo“ wäre eine heillose Lüge gewesen.
„Du blutest ja!“
Wahrhaftig! Reni hatte eine ganz schöne Wunde am Hinterkopf neben dem Ohr. Eine Platzwunde. „Gut, daß das Rad nicht eisenbereift ist! Da wäre dein Schädel wahrscheinlich noch etwas mehr mitgenommen“, sagte der Bauer, der auch herangekommen war. Erika gab ihr ein ziemlich sauberes Taschentuch, das drückte sie darauf. Dumm war nur, daß die Haare naß und dunkel wurden, denn die Wunde blutete ziemlich.
„Ich leg mich lang, bis der Wagen aufgeladen ist“, sagte Reni. „Das Blut wird die Wunde schon verpappen.“ Sie widerstand als Tochter ihres Vaters heldenhaft dem Drängen der Bauersfrau, die Wunde auszuwaschen. „Wunden wäscht man nicht aus“, hatte der Doktor ihr von klein auf eingehämmert, „man wäscht sonst nur Schmutzstoffe hinein. Das Blut schwemmt sowieso alle Schmutzteilchen heraus, die etwa drin waren. Außerdem verklebt es die Wundränder durch das Gerinnen luftdicht und sicher. Was damit nachher zu geschehen hat, entscheidet der Doktor: das bin ich.“
So lag Reni ganz still und hörte es in ihrem Kopf sausen und hämmern, sie ließ auch zu, daß Erika ihr ein nasses Taschentuch auf die Stirn legte, und allmählich ließ das Sausen nach. Als der Wagen vollgeladen war, stand sie auf und probierte ein paar Schritte. Es ging schon wieder. Also konnte man einspannen.
Klaus wurde auf das Heu gesetzt, nachdem die beiden Mädchen ihm alle Höllenstrafen angedroht hatten, wenn er petzte. Nein, er würde nichts verraten. Zufrieden zogen sie ab, Reni und Erika neben dem Fuder gehend.
„Ist dir auch wirklich besser?“ fragte Erika, kurz bevor sie in den kleinen Pfad zum Heim hinauf einbogen. Reni nickte. Natürlich brummte der Kopf noch etwas.
Reni achtete darauf, sich ja nicht von allen Seiten zu zeigen. Die Mutter merkte nichts. Seit Reni mit Erika zusammen in einem Zimmer wohnte, halfen sich die beiden Mädchen gegenseitig beim Kämmen. Es war sehr unangenehm, den dicken Schorf in den Haaren zu haben. Nach ein paar Tagen mußte Reni feststellen, daß die Stelle zu eitern anfing. Sie mochte Mutter nichts sagen und ging zu Vater.
„So was!“ sagte er nur. „Seit wann hast du denn das?“
„Seit ein paar Tagen.“
„Beim Reiten passiert?“
Reni nickte.
„Ist Mutter dabeigewesen?“
Sie schüttelte den Kopf. So, nun wußte er es. Sie hatte wenigstens nicht gelogen.
Der Doktor sah sie an und dachte sich seinen Teil. Er dachte genau das Richtige. Aber er mochte nicht ins Predigen kommen.
Daß Reni wild war, war kein Unglück. Daß sie einmal fühlen mußte, wo sie nicht hatte hören wollen – in Ordnung. Aber er hatte Sorgen mit seiner Frau. Das war es, was ihn schweigen und überlegen ließ.
Sie war jetzt so labil, so anfällig, eigentlich nie ruhig und heiter. Freilich hing das noch mit ihrem eigenen Unfall zusammen, mit ihrem Unvermögen, wieder richtig zu laufen, mit dem Verzicht auf das geliebte Reiten. Sie jammerte nie. Aber sie war auch nie richtig froh. Und sie nahm alles, was vorfiel, unnötig schwer. Er mußte ihr ersparen, soviel er ihr ersparen konnte.
„Hör, Reni“, sagte er, „die Zöpfe müssen runter. So kriegen wir den Dreck nie raus. Bist du untröstlich?“ Er klapste ihr auf die Backe und lachte, als er ihr Gesicht aufstrahlen sah.
„Darf Erika auch ...?“ fragte sie atemlos. Das fand er nun wieder nett.
„Vielleicht. Wenn ihre Eltern nichts dagegen haben. Ich will auch gern ein gutes Wort für sie einlegen, damit sie nicht erst vom Hengst fliegen muß, um das zu erreichen. Zufrieden? Aber Reni, jetzt hör erst mal zu, was ich dir sagen will. Wirst du es richtig verstehen?
Wir sagen Mutter nicht, daß du heimlich doch geritten bist. Sonst tu ich das nie, so etwas vertuschen – ich habe aber meine Gründe diesmal. Mutter darf jetzt nicht aufgeregt werden. Wenn ich ihr sage, du hättest eine Wunde, aus der Turnstunde meinetwegen, die der Haare wegen nicht heilt, dann regt sie das nicht auf. Mutter ist ja soweit vernünftig. Wenn sie aber hört, daß du geritten bist, obwohl es verboten war – das war es doch?“
Reni nickte beklommen.
„Und wieso? Vom Reiten allein kommt das doch nicht?“ Der Vater sah sie an. Sie schlug ihre Augen nicht nieder, obwohl ihr die Knie weich wurden.
„Ich bin gesprungen“, sagte sie leise.
Jetzt war es heraus.
Der Vater schwieg. Dann seufzte er.
„Reni, es ist natürlich gut, daß du es mir sagst. Deshalb will ich auch nicht schimpfen. Daß das nicht wieder vorkommt, wirklich nicht, Reni, brauche ich wohl nicht noch mal zu sagen. Ihr sollt gehorchen. Sonst ist es ein für allemal aus mit den Ponys. Hörst du? Ich verstehe, offen gestanden, überhaupt nicht, daß du so was machst. Erika ist bestimmt nicht gesprungen, wie ich sie kenne.“
Reni sah vor sich hin. Er blickte sie prüfend an. Jetzt sah sie verbockt aus, trotzig, vorher war sie zugänglich und sogar reuig gewesen. Er rüttelte sie ein wenig. „Was? Na, nun red schon.“
„Mutter hat ja nie Zeit für mich“, sagte Reni leise. Es klang sehr traurig.
„Mutter nimmt sich genug Zeit“, sagte Vater heftig. Daß Kinder so ungerecht sein können! „Mutter hat eben wenig Zeit. Sie kümmert sich um das Heim und um die Küche, um die einzelnen Kinder, um Christian – ja, er ist ja auch ihr Sohn – und um mich. Jeder bekommt eben nur ein Stück von Mutter ab. Auch wir. Verstehst du das?“ Er sah seine kleine Tochter eindringlich an.
„Doch. Aber ich hab gedacht ...“ Reni stockte und schwieg.
„Was hast du gedacht?“ fragte der Vater und schüttelte sie wieder ein bißchen.
„Ich hab gedacht, oder ich hatte gedacht, wir würden jetzt eine richtige Familie sein“, sagte Reni leise. Es fiel ihr schwer, das alles auszusprechen, aber mit dem Doktor hatte man immer sprechen können, wie es einem ums Herz war.
„Gott sei Dank, daß sie das auch jetzt noch tut“, dachte er, trotz allen Kummers beglückt. Vielleicht konnte man ihr eben doch helfen, wenn sie sprach.
„Eine Familie wie andere auch haben. Mit Vater und Mutter, und Geschwistern, das ist klar. Aber so sind wir nicht. Du bist immer fort – na ja, dafür bist du Arzt. Aber Mutter ist auch nie da. Einmal rechnet sie abends mit Tante Mumme ab, einmal macht sie den Speisezettel oder eine neue Tischordnung, oder sie erledigt Neuanmeldungen, oder sie besprechen ein Abschiedsfest. Und abends ...“ Sie brach ab. Vater sah sie an.
„Abends?“
„Abends schickt sie mich ins Bett. ‚Du bist müde‘ – auch wenn ich überhaupt nicht müde bin. ‚Kinder brauchen viel Schlaf‘ – ‚Geh, sag gute Nacht –‘ und immer ich. Christian braucht nicht so zeitig ins Bett!“
„Christian ist ja auch älter als du, über vier Jahre!“
„Sicher. Aber er darf noch bei euch sitzen!“
„Christian hat seine Mutter verloren“, erinnerte der Doktor leise.
„Und ich meinen Vater“, sagte Reni trotzig. „Sogar eher als Christian seine Mutter. So zeitig, daß ich gar nichts mehr von ihm weiß. Nur das Bild habe ich noch.“
„Reni“, sagte der Doktor ernst und zog sie ein wenig an sich, „hast du keinen Vater?“
Sie wich seinem Blick aus.
„Sicher, ich hab dich, aber dich hab ich im Grunde auch nie. Jetzt jedenfalls. Früher ...“ sie verstummte.
„Aha“, dachte Vater,