Merkosh. Er starrte sie aus zwei schwarzen, algenüberzogenen Seen an, die keinen Grund kannten. »Sie ... Sie müssen die Zeichen lesen ...« Unkoordiniert zuckte er mit den Armen, verdrehte die Gelenke, als wolle er einen Knoten hineinmachen.
Sud trat zu ihm an die weiße Medoliege. Sie musste nicht lange warten, um zu erkennen, worauf Merkosh mit seinen Verrenkungen deuten wollte: In seiner Brust tanzten die schwarzen Flocken. Ähnlich wie die Eiskristalle auf dem Intarsium farnartige Strukturen ausgebildet hatten, wuchsen nun die Partikel aus Dunkelleben zusammen und bildeten etwas Neues. Eine Mischung aus Symbolen und Glyphen entstand. Sie erinnerten Sud an Zeichen, die man den Maya zuschrieb, doch es waren definitiv keine irdischen Chiffren. Sud konnte sie nicht deuten.
Merkoshs Rüssellippen bewegten sich. Aus ihnen kam ein gepulstes Summen, das sich rhythmisch wiederholte. Sud kam näher, legte ihr Ohr dicht über Merkoshs Mund – nein ... Eigentlich war da kein Laut. Das gepulste Summen kam aus der Luft, aus dem Raum, war überall ringsum und schloss sie ein wie ein Gefängnis.
Die Laute klangen drängend, wollten eine Botschaft vermitteln, genau wie die Zeichen in Merkoshs Hals- und Brustbereich. Aber was sie hörte und sah, ergab keinen Sinn.
»Hast du zu lesen verlernt?«, spottete Sid freundlich.
Sud fuhr zurück, schlug sich die Hände vor die Ohren, doch das Summen blieb! Es musste in ihr sein.
»Spieglein, Spieglein an der Wand ...«, flüsterte Sue. »Wer ist die schlaueste Ärztin im Land?«
Wie unter Zwang hob Sud den Kopf, betrachtete das Intarsium im eingeschalteten Spiegelfeld an der Decke. Unter dem Myzel des Halteparasiten löste sich ein winziger Teil des Metalls auf. Ein Tropfen bildete sich, lief – der Schwerkraft zum Trotz! – senkrecht nach oben und verschwand in einer Schnittstelle, die es eigentlich gar nicht geben durfte. Die Schnittstelle schwebte als transparentes Hologramm in der Luft, wirkte wie eine Mischung aus altmodischen USB- und Audioanschlüssen.
Wieder bildeten sich rätselhafte Symbole in Merkoshs Leib, noch fremder als die, die sich der Oproner üblicherweise auf die Haut zeichnete. Sie schwammen dunklen Fischen gleich durch Arme und Beine.
Sud hob ihr Handgelenk, nutzte das Multifunktionsarmband, um eine Aufzeichnung des Geschehens anzufertigen. Im Hintergrund hörte sie den Brummton, der von überall zugleich zu kommen schien.
Sie atmete durch, ließ die Aufzeichnung zurücklaufen und tippte auf Start: Da war kein Ton. Es gab auch keine in der Luft schwebende Schnittstelle. Und da waren auch keine Signale oder Zeichen in Merkoshs glasartigem Körper, die durch nahezu unsichtbare Arme und Beine huschten. Alles, was Sud erkennen konnte, waren die schwarzen Flocken, die gemächlich vor sich hin wanderten, als hätten sie die Zeit für sich gepachtet.
»Aufschlussreich«, stellte Sud fest.
Sie war Ärztin. Sie würde sich nicht von pathologischen Prozessen innerhalb ihres Kopfs zum Narren halten lassen. Jedenfalls nicht, solange sie noch in der Lage war, zu bemerken, dass etwas nicht stimmte. »CP-Sieben!«
Der schwebende Medoroboter, der zuvor nur dank ihrer Hilfe Merkoshs Kleptomanie entgangen war, flog an ihre Seite. Ein grünes Blinken huschte über den diskusförmigen Körper, das Bereitschaft signalisierte.
»An die Arbeit!«, befahl Sud. »Wir machen jetzt ein paar Hirnscans!«
Sich selbst medizinisch zu untersuchen, war immer wieder eine sonderbare Angelegenheit für Sud. Doch wenigstens wusste sie, dass sie gründlich analysiert werden würde und in den besten Händen war.
Ihr Blick glitt zu Merkosh, der in seinem benebelten Zustand gerade versuchte, an einen Schreibstift heranzukommen, der in einer Tasche von Suds Arztkleidung steckte, um ihn in seiner Haut verschwinden zu lassen.
»Fesselfelder«, murmelte sie. »Auch wenn es mir nicht leichtfällt.«
Sie ordnete die vorübergehende Fixierung des Patienten auf der Medoliege an, bis Merkosh wieder in der eigens für ihn gesicherten Isoliereinheit lag, die verhindern sollte, dass er Dinge aus dem Raumschiff stahl. Außer ihr war niemand da, der bei klarem Verstand gewesen wäre, deshalb zog sie es vor, derzeit ganz allein Dienst in der Quarantänezone der Medostation zu tun. Wenigstens war es tröstlich, dass man sich in den anderen Abteilungen auch um die wenigen sonstigen Patienten gut kümmerte. Das unterband der Halteparasit nicht. Und im Notfall blieb ihr Drogan Steflov, der dank einer ganzen Reihe fragwürdiger Präparate dem Pilz Paroli bot, nachdem die parapsychische Behandlung durch Sud ihm den nötigen Freiraum verschafft hatte.
Sud ging in einen angrenzenden Raum, der bis auf eine Untersuchungsliege leer war. Sie programmierte eine Durchmusterungsreihenfolge, die Klarheit über ihre Hirntätigkeit bringen sollte. Anhand der dreidimensionalen Aufnahmen und Messwerte würde sie erkennen können, ob sie derzeit an visuellen und akustischen Halluzinationen litt.
»Cool bleiben«, sagte Sid. »Bleib immer cool. Hast du nie auf der Straße gelebt? Wenn sie deine Schwäche riechen, zerreißen sie dich.«
»Ich bin bei dir«, sagte Sue. »Ich war immer bei dir, weißt du? Ich lasse dich nie allein.«
Sud ignorierte beide Stimmen. Sie legte sich auf die Pritsche und ließ – vom Medoroboter überwacht – die Messreihe anlaufen.
Das Intarsium kribbelte unangenehm. Noch immer war es kühl. Kam das Brummen vielleicht von ihm?
Es dauerte quälend lang, bis die Durchleuchtung abgeschlossen war und Sud wieder aufstehen konnte. Objektiv waren es drei Minuten gewesen – subjektiv drei Stunden! Und noch länger dauerte es, bis sich Sud endlich die Ergebnisse im Holo anschauen durfte.
Die Scans enthüllten eine ungewöhnliche Aktivität in den Gehirnarealen, die für die optische und akustische Signalverarbeitung zuständig waren. Der Okzipitallappen lief auf Hochtouren. Offenbar reizte das in der Schläfe sitzende Intarsium den Sehnerv und vielleicht sogar die Netzhaut.
Sud analysierte die Bilder, die zeigten, wie stark das Intarsium mit ihrem Gehirn verwoben war. Das Metallstück verfügte über weiche, wie zarte Wellen geformte Wurzeln, die einem Pilzmyzel gleich in die Tiefen des Zerebrums vorstießen. Die rötlichen Ausläufer durchdrangen die oberen Windungen des Frontal- und Temporallappens ebenso wie das Wernicke-Zentrum und andere Brodmann-Areale. Einige waren derart fein, dass Sud sie in der vorliegenden Auflösung kaum erkennen konnte. Sie reichten bis zur Sehrinde.
Eben wegen dieser Vernetzung hatte Sud nie einen Versuch unternommen, das Intarsium entfernen zu lassen. Die Verbindungen waren zu verästelt, die Folgen einer Operation wären unabsehbar.
Auch im Gyri temporales, dem primären Hörzentrum, gab es mehr Aktivitäten, als es dort derzeit geben sollte.
Der Kontakt mit Merkosh hatte offensichtlich etwas im Intarsium ausgelöst. Das war sowohl beunruhigend als auch überraschend. Das Intarsium war lange Zeit praktisch inaktiv gewesen, unauffällig. An manchen Tagen hatte Sud es schlicht vergessen können. Nun meldete es sich mit wehenden Fahnen zurück, und die vielen Auswirkungen ließen Sud den Hals und die Brust eng werden. Sie kam sich verletzlich vor – angreifbar.
Lag es an der Zusammenwirkung mit dem Halteparasiten? Für diese Hypothese gab es vorerst keine Beweise.
»Das Wesentliche!«, sagte sie laut. »Ich muss mich um das Wesentliche kümmern.«
Sie zwang sich, die erstellten Hologramme nüchtern zu betrachten, als wären es die eines Patienten. In routinierter Weise entwarf sie einen Medikationsplan, wies CP-7 an, die entsprechenden Mittel zusammenzustellen. Die erste Kombination aus speziell aufgewertetem Benzyl-Prosponol und Amisulpran, einem von Aras entwickelten Neuroleptikum, nahm sie sich selbst aus dem Medikamentenvorrat der Krankenstation und füllte sie in einen daumengroßen Injektor. Sie setzte das röhrenförmige Gerät über dem Ärmel an. Eine Signalleuchte wechselte von Orange auf Grün, wobei ein feiner Ton erklang – Sud löste die Hochdruckspritze aus.
Schon Minuten später fühlte sie sich besser. Der Brummton verschwand, und in Merkoshs Brust herrschte das gewöhnliche Treiben. Trotzdem würde sie Steflov kontaktieren und ihn über die Vorfälle in Kenntnis setzen. Manchmal war