Stimmen im Garten hörte. Dagnys gurrende Stimme tat ihm in den Ohren weh und Carl Ernsts beständiger Tabakhusten folgte. Der Truthahn und die Krähe, wie Roland seine Schwiegereltern gerne nannte. Natürlich nur, wenn niemand es hörte. Der voluminöse Körper seiner Schwiegermutter mit vorgewölbter Brustpartie und zitterndem, fettem Truthahnhals und die magere, zusammengesunkene, verschreckte Erscheinung seines Schwiegervaters und sein Gesicht mit den schmalen, eingefallenen Wangen samt des schnarrenden Hustens hatten diese Assoziationen hervorgerufen. Wie diese Kombination einen Schwan, wie er Irene bezeichnete, hatte hervorbringen können, darüber hatte er sich oft gewundert. Selbstverständlich hielten sie sich über Pfingsten bei dem schönen Wetter in ihrem Zelt auf dem Blommehaven Campingplatz beim Adlerhorst auf. Angolo legte die Ohren an und zog sich ein wenig von den Geräuschen zurück. Roland nickte verständnisvoll und ließ den Hund los. Es war verblüffend, wie Tiere sich erinnerten. Angolo verduftete in der Regel, sobald er ihr Auto hörte. Wie Roland es am liebsten auch tun würde. Dagny hatte dem Hund mal unter dem Tisch mit einem spitzen Schuh einen Tritt versetzt, als sie dachte, niemand würde es bemerken. Damals war Angolo ein Welpe und hatte noch nicht gelernt, in seinem Körbchen zu bleiben, wenn Gäste zum Essen kamen. Es war spannender, unterm Tisch zu liegen und zu sehen, ob ein Leckerbissen runterfiel, und das tat er in der Regel bei Dagnys Stuhl. Sie machte auch kein Geheimnis daraus, dass sie Hunde nicht ausstehen konnte. Überhaupt hielt sie mit ihrer Meinung selten hinterm Berg. Eine Eigenschaft, die Roland normalerweise für lobenswert hielt, aber nicht bei Dagny. Ihre Ansichten ließen ihn in der Regel die Kontrolle über sein Temperament verlieren. Irene warf ihm vor, er wolle die Äußerungen ihrer Mutter als provokant auffassen, egal, was sie sagte, und dass es deswegen immer so schiefginge. Nur um Irenes willen hatte er daher angefangen die Zähne zusammenzubeißen und zu versuchen, die Wut und die Sticheleien zu ignorieren, die die Schwiegermutter ihm entgegengackerte. Und es war nicht nur, weil er sie falsch verstand.
„Ich wusste nicht, dass sie kommen wollten“, flüsterte Irene beinahe entschuldigend, als er sich neben sie stellte und die Hände in der Spüle wusch. Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah die Familie im Garten. Marianna war dabei, Gläser auf den Tisch zu stellen, und Tim unterhielt sich mit Carl Ernst, der nicht überraschend Rolands Stammplatz gewählt hatte und völlig desinteressiert an Tims Redeschwall weiter oben etwas betrachtete. Das Dach natürlich. Die Villa war ursprünglich Irenes Elternhaus gewesen, das sie den Schwiegereltern abgekauft hatten, da sie in etwas Kleineres in der Stadt ziehen wollten. Der Schwiegervater hatte Roland immer kritisiert, er vernachlässige das Dach. Sie hatten auch geplant, es instand zu setzen, aber dann war das mit Irene passiert, was den Großteil der Ersparnisse aufgebraucht hatte - oder besser gesagt: alle. Von diesem Teil von Irenes Operation wussten Dagny und Carl Ernst nichts, sie waren sich trotz allem einig gewesen, es zu verschweigen, obwohl Irene ihren Eltern normalerweise alles anvertraute. Seiner Meinung nach viel zu viel. Dagny lief umher und betrachtete die Bepflanzung. Viele der Bäume und Büsche hatte sie selbst ausgewählt und gepflanzt, damals, als die Villa ihnen gehörte, und die Inspektion lief ganz sicher darauf hinaus, sich zu vergewissern, dass sie korrekt gehegt und beschnitten wurden. Zweifelsohne waren weitere Vorwürfe im Anzug.
„Jetzt mach nicht so ein Gesicht - und lass das Brummen“, flüsterte Irene weiter mit einem kleinen, tadelnden Lächeln.
„Was für ein Gesicht?“, fragte er und trocknete, ohne den Blick von den Geschehnissen im Garten abzuwenden, die Hände am Geschirrtuch, das am Griff der obersten Schublade hing.
„Du bist schon bereit, in die Offensive zu gehen, das kann ich dir ansehen, und du knurrst wie ein Löwe, der eine Beute ausgewählt hat.“
„Quatsch!“ Roland lächelte überzeugend und küsste sie auf die Wange. „Soll ich was mit rausnehmen?“
„Den Schnaps. Das wird Papa freuen“, sagte sie und blinzelte ihm neckend zu.
Es zog nur ein bisschen in dem einen Bein, wenn sie ging. Er bemerkte, dass sie sich schmerzlich bemühte, damit nicht zu viele Fragen zu ihrem Gesundheitszustand kamen. Die Krücken waren nicht an ihrem üblichen Platz in der Ecke, sondern sicher im Flurschrank versteckt. Irene hasste es, über ihre Behinderung zu sprechen. Aber er verstand sie gut und der Drang, sich neben Angolo im Korb in der Wohnzimmerecke zusammenzukauern, war beinahe unwiderstehlich. Die Schwiegereltern hatten ihm nie verziehen, dass er Irene an jenem Abend allein gelassen hatte. Sie wussten offensichtlich nicht, dass er selbst es sich auch nicht verziehen hatte.
Die Schnapsflasche war eiskalt, aber es fühlte sich an den Fingern wie eine Verbrennung an, als er sie nach einem tiefen Atemzug raus in den Garten trug, zusammen mit dem Currysalat, den Irene vergessen hatte mitzunehmen. Es gelang ihm, wenige Sekunden bevor er den Tisch erreichte, das Lächeln aufzusetzen.
„Ach, Rolando, bist du auch hier?“, schnatterte Dagny, sobald sie ihn sah. „Ich dachte, du wärst arbeiten, wie immer.“
„Rolando hat doch den Job gewechselt, Mama. Er ist nicht mehr bei der Polizei, deswegen muss er nur, wenn er Dienst hat, vielleicht Überstunden machen, aber das passiert glücklicherweise selten“, antwortete Irene für ihn und streichelte ihm beruhigend den Rücken. „Und dafür bin ich sehr dankbar“, fügte sie hinzu.
„Ach ja, du bist ja jetzt bei der DUP, das hatte ich ganz vergessen. Jetzt stellst du deinen eigenen Leuten nach.“
Wenn er das Lächeln als humorvoll oder freundlich hätte interpretieren sollen und nicht als höhnisch, dann wären seine Fähigkeiten als Menschenkenner völlig auf dem Holzweg gewesen. Er setzte sich und öffnete den Schnaps.
„Ich stelle niemandem nach, Dagny. Auch Polizisten haben ein Recht auf gerechte Ermittlungen, wenn sie einer Gesetzwidrigkeit beschuldigt werden. Genau wie wir anderen. Ich arbeite im Dienste der Wahrheit. Willkommen und schöne Pfingsten!“, sagte er und erhob das Glas, als alle eingeschenkt bekommen hatten.
Die Blutbuche warf einen angenehmen Schatten auf den Tisch und die Temperatur war perfekt. Der Duft der Juniblumen des Gartens dominierte. Besonders von der Magnolie mit den großen, rosafarbenen, tulpenähnlich geformten Blüten, deren Duft beinahe den Hering übertünchte, mit dem Roland sich gerade eindeckte. Die Unterhaltung bei Tisch war gedämpft und wechselseitig mit dem Sitznachbarn, nur Marianna war zwischendurch ein bisschen laut, bis sie der Blick ihrer Urgroßmutter traf. Dagny hingegen war schweigsam, während sie sich vollstopfte. Hätte Angolo gesehen, was ihm entging, wäre er sicher aus seinem Versteck gekommen. Wenn er sich getraut hätte. Roland fühlte sich allmählich ruhiger und atmete einigermaßen normal. Vielleicht war das eine der seltenen Zusammenkünfte, bei denen es nicht völlig schieflief. Vielleicht weil Rikke, Tim und Marianna auch hier waren. Aber jetzt ging der Schnaps Carl Ernst ins Blut, er hustete und mit roten Wangen nahm er schließlich das Dach in Angriff.
„Es würde es sehr verschönern, dieses Moos und die Algen zu entfernen, Schwiegersohn“, sagte er so laut, dass alle am Tisch aufhörten zu essen und ihn anschauten. Es kam auch nicht oft vor, dass er einfach das Wort ergriff. Normalerweise musste man ihn ansprechen, bevor er etwas sagte.
„Wir haben auch vor, das …“, begann Roland.
„Ja, es wäre besser gewesen, das Geld dafür zu verwenden, statt die alten Zimmer und den Keller zu renovieren. Wozu eigentlich?“, unterbrach Dagny und wandte ihm so schnell das Gesicht zu, dass das Kinnfett schwabbelte.
„Weil da doch jemand wohnen soll, Omi“, erklärte Marianna erwachsen und Roland krümmte sich innerlich. Sein Blick suchte Irene. Er wusste nicht, wie viel sie ihren Eltern erzählt hatte. Ob sie überhaupt von ihrem Job bei der Dänischen Flüchtlingshilfe gehört hatten. Vermutlich nicht.
„Wer soll da wohnen? Irene, du willst doch wohl keine Obdachlosen beherbergen?!“
„Das sind keine Obdachlosen, Mama.“
Irene legte Messer und Gabel auf den Teller und wischte sich mit der Serviette den Mund ab. Rüstete sich zum Kampf, das konnte er sehen. Nun musste sie sich daran erinnern, dass die Äußerungen ihrer Mutter nicht provozierend waren.
„Das sind Afrikaner, Omi“, war Marianna behilflich.
„Afrikaner?!“
Dagnys