Norbert Stöbe

KLEINER DRACHE


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      Norbert Stöbe

      Kleiner Drache

      AndroSF 121

      Norbert Stöbe

      Kleiner Drache

       AndroSF 121

      Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

      Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

      © dieser Ausgabe: November 2020

      p.machinery Michael Haitel

      Titelbild: Andreas Schwietzke

      Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

      Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

      Herstellung: global:epropaganda

      Verlag: p.machinery Michael Haitel

      Norderweg 31, 25887 Winnert

      www.pmachinery.de

      für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

      ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 220 1

      ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 876 0

      Einst träumte Zhuang Zhou, er sei ein Schmetterling, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Zhuang Zhou. Plötzlich wachte er auf: Da war er wieder wirklich und wahrhaftig Zhuang Zhou. Nun weiß ich nicht, ob Zhuang Zhou geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Zhuang Zhou sei, obwohl doch zwischen Zhuang Zhou und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.

      Zhuang Zi

      

Erstes Buch Prolog

      

      Sechzehn Jahre zuvor

      Wie alle fünf Jahre leuchtete der Platz des Himmlischen Friedens blutrot. Zweitausenddreihundertzwanzig Fahnenmasten ragten in den wolkenlos blauen Himmel über Beijing, für jeden Delegierten einer. Niemand, der auf dem Weg zur Großen Halle des Volkes den Fahnenwald durchschritt, konnte sich der Wirkung des heroischen Knatterns und Flatterns entziehen. Gerüchten zufolge hatte man am Vorabend der Parteitagseröffnung in den Nebenstraßen gewaltige Maschinen aufgestellt, die im Falle einer Windflaute für Luftzug sorgen sollten. Wenn das stimmte, so hatte sich die Vorsichtsmaßnahme der Partei als überflüssig erwiesen, denn es wehte ein kräftiger, aber nicht zu kräftiger Wind. Das windbewegte rote Wogen beschwor die gewaltige Größe des Landes und seine ruhmreiche Geschichte herauf, und wer es durchmessen hatte und vor der breiten Eingangstreppe stand, fühlte sich erhoben und gestärkt für den Eintritt in die Große Halle. Während die Angehörigen des Politbüros und die Generäle über die Tiefgarage in das Gebäude geschleust und die Gebrechlichen an einem treppenlosen Nebeneingang in Empfang genommen wurden, stiegen die gesunden Delegierten jeder für sich, niemals in Gruppen, würdevoll und ein wenig beklommen die Treppe hinauf und nahmen nach Passieren der Sicherheitsschleuse am Eingang von einer der lächelnden Hostessen ihre Ausweiskarte, das Namensschild und das Huawei-Tablet in Empfang, auf dem die Tagesordnung und die zahlreichen Anträge und Änderungsvorschläge mitsamt des empfohlenen Abstimmungsverhaltens vorgespeichert waren. Erst im Vorsaal, wo an langen, mit bunten Blumengestecken geschmückten Tischen grüner Tee, Frühlingsrollen und Hühnersalat ausgeteilt wurden, fanden sich die ersten Grüppchen, und ihr aufgeregtes Geplauder mischte sich mit dem Gesang des Revolutionschors aus den Lautsprechern.

      Wie alle, die zum ersten Mal die Ehre hatten, am Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas teilzunehmen, war auch Tsu Dongfeng vor lauter Ergriffenheit ganz warm ums Herz. Staunend musterte er die vielen fremden Gesichter und nippte ehrfürchtig am Tee, als habe er noch nie im Leben eine solche Köstlichkeit geschmeckt. Er war Landwirtschaftstechniker bei der Kooperative Pflug und Traktor und hatte seine Heimatstadt in der Provinz Shaanxi noch nie zuvor verlassen. Dass man ihn zum Delegierten bestimmt hatte, war eine unverdiente Ehre, die über ihn gekommen war wie ein Geschenk des Himmels. Bei seinen Kollegen stand er im Ruf, mehr als nur ein wenig wunderlich zu sein.

      Dies verdankte er seinem Einfühlungsvermögen bei Kühen. Unter Menschen fühlte er sich fremd, doch bei den Tieren im Stall fühlte er sich aufgehoben. Er war überzeugt, dass sie alle eine Sprache hatten, doch verstehen konnte er nur die Sprache der Kühe. Mit den Jahren hatte er gelernt, dass ihr Muhen all die Gefühle ausdrücken konnte, die auch er bei sich empfand: Ungeduld, Angst, Zufriedenheit und bisweilen auch Glück. Er imitierte gern ihre Laute und unterhielt sich mit ihnen. Seine Arbeitskollegen lachten ihn dafür aus.

      Doch sein Verständnis für das sanftmütige Wesen der Kühe blieb nicht ohne praktische Konsequenz. Es war ihm ein Anliegen, ihr Los zu verbessern, und das gelang ihm mit kleinsten Mitteln; er gab ihnen Namen, befestigte bunte Fahnen an der Wand, stellte ein Radio auf, das Musik spielte, und besorgte weichere Saugaufsätze für die Melkmaschine. Die Kühe dankten es ihm damit, dass sie mehr Milch gaben, seltener erkrankten und weniger Medikamente benötigten. Das blieb bei seinen Vorgesetzten nicht unbemerkt.

      Während die Sticheleien seiner neidischen Kollegen immer spitzer und schmerzhafter ausfielen, suchten andere bei ihm Rat und gewährten ihm Unterstützung. So kam es, dass Pflug und Traktor als erste landwirtschaftliche Kooperative in ganz China den Laufstall einführte. Aus Lautsprechern in den Ecken in angenehmer Lautstärke beschallt, wanderten die Kühe zwischen Tränke und Futterstelle hin und her, suchten sich zum Wiederkäuen und Schlafen ein Lagerpodest aus und begaben sich selbstständig zur Melkmaschine, wenn der Euter sie drückte. Auch den traurigen Weg zum Transporter hatte Tsu Dongfeng verändert, nachdem er ihn viele Male zusammen mit den ausgemusterten Tieren abgeschritten hatte, sodass sie nun ohne Angst und beinahe von selbst in den Wagen gingen, der sie zum Schlachthof brachte.

      Immer öfter schauten Besucher aus anderen Betrieben bei Pflug und Traktor vorbei, und alle wollten sie mit Dongfeng sprechen, was ihm gar nicht recht war. Dennoch beantwortete er mit stockender Stimme ihre Fragen, so gut er es vermochte, und als der Parteisekretär mit seiner großen schwarzen Limousine vorfuhr und von der großen Ehre sprach, die es bedeute, dem Vaterland zu dienen, nickte er bereitwillig, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Als das Lokalfernsehen den Parteitagsdelegierten von der Landwirtschaftskooperative interviewen kam und wissen wollte, wie er es zum Delegierten geschafft habe, lautete seine Antwort: »Ich wollte doch nur den Tieren helfen!«

      Es dauerte zwei Stunden, bis alle Delegierten im großen Saal Platz genommen hatten. Sie legten ihre Tablets vor sich hin und packten aus ihren dicken Aktentaschen, Modell »Großer Elefant«, Aktenordner, Proviantdosen und Thermoskannen aus. Dies alles stapelten sie vor sich auf dem Ablagebord zu einem Sichtschutz, die »Kleine Mauer«, die ihnen während der einwöchigen Sitzungsperiode das eine oder andere verstohlene Nickerchen erlauben würde. Als alles gerichtet war, nahmen die Angehörigen des Politbüros unter tosendem Applaus ihre Plätze auf dem Podium ein. Präsident Xi Wenteng begrüßte die Delegierten, dann folgte der dreieinhalbstündige Rechenschaftsbericht, worauf die Sitzung vertagt wurde.

      Der Parteitag nahm seinen Lauf, exakt im Zeitplan wurde die lange Liste der Tagesordnungspunkte abgehakt, und je länger der Sitzungsmarathon währte, desto kleiner wurden die Delegierten hinter ihrer kunstvoll errichteten Kleinen Mauer. Sie sanken in sich zusammen, betteten den Kopf auf die verschränkten Arme und dösten mit offenen und immer öfter auch mit geschlossenen Augen. Doch immer dann, wenn eine Abstimmung anstand, waren sie mit einem Schlag hellwach, orientierten sich blitzschnell im Raum, warfen einen Blick auf das Tablet, wo die gewünschte Abstimmungshaltung – ja oder nein – blinkte, und betätigten den roten oder den weißen Abstimmungsknopf, je nachdem, ein choreografiertes Ballett der Arme und Hände, das nonstop in alle Landesteile übertragen wurde. Es war, als hätten sie den Zeitplan des Parteitags