werden – wen interessierten denn jetzt noch die Finanzprobleme des Universitätskrankenhauses? Johan sollte all seine Informationen an eine Kollegin weitergeben, die daraus auf die Schnelle eine Meldung zusammenbasteln würde. Außerdem musste sie ein Telefoninterview mit dem Wachhabenden der Polizei in Visby vorbereiten, der ihnen den Mord bestätigen sollte.
Bereits nach wenigen Minuten drängten sich alle Redakteure der großen landesweiten Nachrichtensendungen in der Redaktion der Regionalnachrichten.
»Warum schickt ihr einen Reporter nach Gotland? Ist dieser Mord so Aufsehen erregend?«, wollte der Chef vom Dienst der Nachrichtenzentrale wissen.
Er hatte, wie alle anderen, nur das TT-Telegramm gelesen, aber bereits gehört, dass die Regionalnachrichten zwei Leute nach Gotland schicken wollten. Vier Augenpaare starrten Grenfors fragend an, der schließlich ein Einsehen hatte und seine Informationen preisgab.
Da an diesem Tag in der Welt sonst wenig los war, reagierten die Redakteure elektrisiert. Endlich eine Nachricht, die die Sendungen retten konnte! Da es sich um keinen gewöhnlichen Mord handelte, redeten alle aufgeregt durcheinander. Der Chef vom Dienst beschloss nach heftiger Diskussion, dass es ausreichte, einen Reporter nach Gotland zu schicken.
Sie kamen überein, dass ihr Vertrauen zu Johan Berg bis auf weiteres groß genug sei, um ihm die Story zu überlassen.
Johan sollte Peter Bylund mitnehmen, den Kameramann, mit dem er am liebsten zusammenarbeitete. Ihr Flug nach Visby ging um 20 Uhr 15.
Als er mit dem Taxi nach Hause fuhr, spürte Johan die vertraute Erregung darüber, sich im Mittelpunkt der Ereignisse zu befinden. Der brutale Mord an einer Frau und sein Entsetzen über diese Tat traten in den Hintergrund vor dem Drang, alles herauszufinden und darüber zu berichten. Seltsam, wie man reagiert, dachte er, als der Wagen über die Västerbro fuhr. Er konnte über den Riddarfjärd auf Stadthaus und Altstadt blicken. Man verdrängt alle normalen menschlichen Gefühle, nur der Beruf spielt eine Rolle.
Er dachte zurück an die Nacht, in der die Fähre Estonia gesunken war. Im September 1994. An den Tagen nach dieser entsetzlichen Katastrophe, die über achthundert Menschen das Leben gekostet hatte, war er zwischen den Angehörigen im Hafenterminal in Värtan, den Angestellten der Reederei Estline, den überlebenden Fahrgästen, den Politikern und den Kriseninterventionsteams hin und her gejagt. Er war nur zum Schlafen nach Hause gegangen, um kurz darauf wieder zum Job zurückzuhetzen. Wenn er mitten in einer Sache steckte, nahm er alles in sich auf, was ihm erzählt wurde, behielt aber dennoch Distanz. Die emotionale Reaktion stellte sich erst viel später ein. Als die ersten geborgenen Leichen in Schweden eintrafen, waren sie in einer Prozession vom Flughafen Arlanda zur Riddarholmskirche in der Altstadt gebracht worden. Dort fand eine Andacht statt, ehe die Toten ihren Angehörigen überlassen wurden. Johan verfolgte die Direktübertragung zu Hause, hörte die tiefe, ernste Stimme eines Reporters von Radio Stockholm und brach zusammen. Er ließ sich auf den Boden fallen und konnte einfach nicht aufhören zu weinen. Alle Eindrücke, die er in sich gesammelt hatte, schienen gleichzeitig an die Oberfläche zu kommen. Vor seinem inneren Auge sah er die im Rumpf der Fähre umherschwimmenden Leichen, sah schreiende Menschen, die unter den umherschleudernden Tischen und Schränken eingeklemmt wurden, sah die Panik, die an Bord ausgebrochen war. Er hatte das Gefühl, zu zerbrechen. Ihn schauderte noch immer bei der Erinnerung daran.
Als er seine Wohnung betrat, wurde ihm bewusst, wie unordentlich sie war. In letzter Zeit hatte er einfach alles stehen und liegen lassen. Die Erdgeschosswohnung lag in der Heleneborgsgatan in Södermalm.
Dass direkt an der Hauswand das Wasser des Riddarfjärds schwappte, war der Zweizimmerwohnung nicht anzusehen. Sie war zum Hinterhof gelegen. Johan machte das alles nichts aus. Er fühlte sich in dieser Gegend wohl; zentral, mit einer Vielzahl an Geschäften und Lokalen in unmittelbarer Nähe, außerdem war die grüne Insel Långholmen mit ihren Spazierwegen und Badefelsen nicht weit entfernt. Besser konnte man doch gar nicht wohnen.
Aber im Moment war die Wohnung wirklich nicht gut in Schuss. Im Spülstein stapelte sich das Geschirr, der Korb mit der schmutzigen Wäsche quoll über, und auf dem Wohnzimmerboden lagen leere Pizzakartons. Die typische Junggesellenbude. Es roch muffig. Johan stellte fest, dass ihm eine halbe Stunde zum Packen und Aufräumen blieb. Wenigstens den ärgsten Dreck musste er noch beseitigen. Zweimal klingelte das Telefon, während er in der Wohnung hin und her rannte, spülte, lüftete, den Tisch abwischte, Müll wegwarf, die Blumen goss und packte. Er machte sich nicht die Mühe, den Hörer abzunehmen.
Der Anrufbeantworter schaltete sich ein, und er hörte zuerst die Stimme seiner Mutter, dann die von Vanja. Obwohl sie sich vor über einem Monat getrennt hatten, wollte sie sich nicht damit abfinden.
Ein Ortswechsel würde ihm wirklich gut tun.
In der Ferne läuft ein einsamer Mann durch den Wald. Sein Blick ist wild und haftet am Boden. Er trägt einen schwarzen Müllsack auf dem Rücken. Die Haare hängen ihm feucht in die Stirn. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Wirklich nicht. Er ist erregt, aber zugleich erfüllt ihn eine innere Ruhe. Er steuert einen bestimmten Punkt an. Jetzt sieht er das Meer. Gut. Er ist fast dort, wo er hinwill. Da liegt das Bootshaus. Grau und morsch. Von Unwettern gezeichnet. Von Sturm und Regen. Daneben liegt ein flacher Kahn. Im Boden klafft ein Loch. Das wird er demnächst reparieren. Zuerst muss er sich von seiner Last befreien. Er macht sich lange an dem rostigen Schloss zu schaffen. Der Schlüssel ist seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Am Ende gibt das Schloss nach, mit einem Klicken springt die Tür auf. Zuerst wollte er den Inhalt des Sacks vergraben. Aber warum eigentlich? Hier kommt ja doch niemand hin. Außerdem ist er noch nicht bereit, sich von diesen Dingen zu trennen. Er will sie hier haben, damit er jederzeit herkommen, sie ansehen, daran riechen kann. Im Bootshaus gibt es eine alte Küchenbank zum Aufklappen. Er öffnet sie. Darin liegen einige alte Zeitungen. Ein Telefonbuch. Er leert den Sack darüber. Klappt die Bank wieder zu. Er ist zufrieden.
Visbys Polizeigebäude lag gleich außerhalb der Stadtmauer. Es war ein selten scheußliches Haus. Ein viereckiges Etwas aus hellblauem Blech, das eher einer Fischfabrik irgendwo in Sibirien glich als dem Polizeipräsidium der schönen mittelalterlichen Stadt. Im Volksmund wurde das Haus Blocksberg genannt.
In einem Verhörraum beugte Per Bergdal sich über den Tisch und schlug die Hände vors Gesicht. Seine Haare waren zerzaust, er war unrasiert und hatte eine Fahne. Er zeigte sich nicht sonderlich überrascht, als die Polizei bei ihm im Ferienhaus angeklopft hatte. Schließlich war seine Lebensgefährtin verschwunden. Sie hatten ihn sofort zum Verhör mitgenommen.
Er steckte sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. Saß da, verkatert und elend. Und offenbar auch betroffen.
Obwohl das zu diesem Zeitpunkt eigentlich unmöglich zu beurteilen war, überlegte Kommissar Knutas, als er sich auf die andere Seite des Tisches setzte. Immerhin war seine Lebensgefährtin ermordet aufgefunden worden, er hatte kein Alibi und deutliche Kratzspuren an Hals und Armen und im Gesicht.
Der Aschenbecher vor Bergdal quoll über, obwohl Bergdal eigentlich Nichtraucher war. Karin Jacobsson setzte sich neben Knutas auf einen Stuhl. Passiv, aber aufmerksam.
Per Bergdal hob den Kopf und schaute aus dem einzigen Fenster im Raum. Regen peitschte gegen die Scheiben. Auf der anderen Seite der Norra Hansegatan waren beim Stadttor Österport Teile der alten Mauer zu sehen. Ein roter Volvo fuhr vorbei. Per Bergdal schien er so weit entfernt, dass er auch über den Mond hätte fahren können.
Anders Knutas rückte das Tonbandgerät auf dem Tisch zurecht, räusperte sich und drückte auf den Startknopf.
»Vernehmung von Per Bergdal, dem Lebensgefährten der ermordeten Helena Hillerström«, sagte er in sachlichem Ton. »Es ist 16 Uhr 10 am 5. Juni. Die Vernehmung wird geleitet von Kriminalhauptkommissar Anders Knutas, ebenfalls anwesend ist Kriminalkommissarin Karin Jacobsson.«
Er musterte Per Bergdal, der in sich zusammengesunken dasaß und den Tisch anstarrte, mit ernster Miene.
»Wann haben Sie entdeckt, dass Helena verschwunden war?«
»Ich bin um kurz vor zehn wach geworden. Da lag sie nicht im Bett. Ich stand auf, aber sie war nicht