Boden und entdeckte erst jetzt die unscheinbare, schier endlose Ameisenstraße. Wie ein Äderchen führte sie in die Ferne aus dem Biergarten des Nockherbergs hinaus und weiter in eine unbekannte Welt mit einem unbekannten Ziel. Die zwei Ameisen waren auf einmal viele, alle gemeinsam unterwegs, die Welt ein wenig zu verändern.
Die Anfänge oder Vom volkswirtschaftlichen Nutzen eines Biergartens
Unzählige fröhliche Stimmen schwirrten durch die Schwüle dieses Märznachmittags am Ende der Fastenzeit. Der Nockherberg war zu dieser Jahreszeit ein ganz besonderer Ort. Hier versammelten sich die »echten« Münchner an den Tagen nach dem Starkbieranstich bis zum Beginn der Karwoche am Palmsonntag. Der Andrang war, wie in den Jahren zuvor, groß. Überall regte sich etwas. Schon von Weitem sah, hörte und roch man die gute Laune dieses außergewöhnlichen Ortes. Mein Blick schweifte gelassen umher.
Ein junger Mann trug auf einem wackligen Stuhl stehend etwas wie ein Gedicht vor. Eine alte Frau führte den schweren, steinernen Bierkrug mit leicht zitternden Armen zum Mund. Und eines Teils seiner Last entladen bewegte sich der Humpen der Schwerkraft folgend zum Tisch zurück, nicht ohne ein seliges Lächeln im Gesicht der Alten zu hinterlassen. Vom Spielplatz her tönten die Schreie, die nur von spielenden Kindern erzeugt werden können, und die für alle, die Kinder haben, wie reine Musik trotz oder gerade wegen aller ihrer Dissonanzen klingen und künden: die Kinder sind glücklich! Eine Gruppe Jugendlicher hatte wie eine Kriegsbeute einen vollen Maßkrug ergattert und fiel wolfsrudelgleich darüber her. Ein Tisch war von einer reinen Damengruppe belegt, die die prüfenden Blicke der strammen Burschen sichtlich genoss und durch fröhliches Gekichere und absichtsvolle Tapsigkeit nur noch mehr Aufmerksamkeit zu erzeugen suchte.
Dann setzte die bayerische Blasmusik wieder ein, dabei die feschen Mannsbilder in Lederhosen mit Stutzen und grünen Westen ohne ihre Janker, jeder einen fast tellerförmigen Hut auf dem Kopf, darauf einen weißen Adlerflaum, der sich gen Himmel reckte. Die Marschmusik dröhnte ein wenig, doch die Gespräche an den Tischen hörten jetzt nicht etwa auf, lediglich die Lautstärke der Konversation nahm zu. Jeder schien jetzt etwas Wichtiges sagen zu müssen, begleitet von dem Brummen der Tuba und dem Tirilieren der Klarinetten. Alle Töne vermischten sich zu einem undurchdringlichen Geräuschdschungel. Dazu die vielen Menschen, die kamen oder gingen, die Bekannte begrüßten oder Freunde verabschiedeten, sich am Mandelstand etwas für ihre Liebsten besorgten, Kinder betreuten oder Alte stützten. Das allseitige Gewimmel erinnerte sehr an des »Volkes wahrer Himmel«. Zufrieden jauchzten hier hörbar Groß und Klein: »Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein«4.
Vom Ausschank dampfte die kräftige Kellnerin heran. Mit zehn Maß Bier in den Händen wirkte der stampfende Gang wie das Tapsen eines Zyklops. Von links nach rechts torkelnd spritzte bei jedem Schritt ein wenig der Hopfengischt aus den Krügen. Der gekieste Boden, so fuhr es mir durch den Kopf, war nur für sie geschaffen, damit nicht jeder der wuchtigen Schritte den ganzen Biergarten erbeben ließ, sondern die wilden Kräfte sich in das nachgiebige Kiesbett ableiteten. Doch wie änderte sich das Schauspiel, als sich die Mamsell der Ameisenstraße näherte. Wie einst der weise König Salomon5 oder doch besser wie eine Balletttänzerin hob sie vorsichtig ihr Bein, um mit einer nicht zu erwartenden Eleganz über die dünn hin- und herwieselnden Tierchen zu schreiten. Leben und leben lassen! Mit einem gewaltigen Krachen setzte sie ihre schwere Last endlich auf unserem Tisch ab, um sich mit ihrem fleischigen Unterarm erst einmal den Schweiß aus dem Gesicht abzuwischen. Dann, mit einem kraftvollen Schwung, lupfte sie die Krugsammlung wieder, um mit pirouettenhafter Bewegung zu enteilen, nicht ohne zwei schaumgekrönte Exemplare auf unserem Tisch zu hinterlassen, Relikte, die sich hier munter zu den vier bereits geleerten Krügen gesellten.
Es war ein wirklich schöner, warmer Nachmittag. Die Fastenzeit, die mit dem Aschermittwoch begonnen hatte und mehr als vierzig Tage bis zum Osterfest dauern sollte, neigte sich dem Ende zu. Natürlich hatten auch wir unsere Fastengelübde abgelegt und einen kleinen Verzicht mit dem lieben Gott vereinbart. Das bedeutete auch: keinen Alkohol. Doch als schlaue Juristen, als welche wir zwei Herren Rechtsassessoren uns wähnten, hatten wir im Vorfeld bereits gut verhandelt. Für einen Tag in der Fastenzeit, so hatten wir dem lieben Gott vorgeschlagen, nur für einen einzigen Tag in der Fastenzeit hatten wir vorab einen Dispens erbeten, einen Tag, an dem wir etwas Alkoholisches trinken durften. Aber dann natürlich auch nur etwas, was die Mönche zum Fastengetränk erhoben hatten, das Fastenbier, der Salvator, natürlich dem Höchsten, dem Retter der Menschheit zur Ehre. Dagegen, da waren wir uns sicher, hatte auch der liebe Gott nichts einzuwenden, er war ja einer von uns. Und dieser Tag des Fastenbrechens war heute.
Da saßen wir nun im April des Jahres 1992 zusammen mit den zwei vollen und den vier leeren Humpen, die aus unerklärlichen Gründen noch nicht abgeräumt waren, so als wollten sie neugierig dem beiwohnen, was noch alles geschehen sollte.
Dem Alkohol kann man zu Recht viele nachteilige Eigenschaften zuschreiben und man kann nicht genug davor warnen. Ohne Zweifel führt ein zu großer Konsum zu schweren gesundheitlichen Folgen. Dennoch, wenn Hemmungen fallen, der Mensch seine Wälle verliert, die er zum Schutz des eigenen Selbst aufgerichtet hat, dann führt der Genuss manchmal auch dazu, dass das Innerste freigelegt wird, dass der Mensch zu sich findet und das sagt, was er schon immer sagen wollte, was bis dahin aber hinter Verhaltensbergen und Regelabgründen verborgen gewesen war. Viele wollen den Weg zu sich selbst über Yoga oder Meditation finden, und manche finden ihn dort vielleicht auch, doch die gewonnene Erkenntnis bleibt meist ungesagt, ist ein Geschäft, das man nur mit sich alleine abschließt. Der geniale Gedanke verrinnt, ohne dass er geäußert wird, ohne dass er vom anderen aufgenommen, weitergesponnen und gemeinsam zu etwas Besonderem gemacht werden kann.
Martin Vorderwülbecke kannte ich bereits aus meinen Tagen als Rechtsreferendar. Obwohl auch er in Freiburg Jura studiert hatte, war er mir dort nie über den Weg gelaufen. Aber in Berlin war es dann so weit gewesen. Ich zog 1987 an den Savignyplatz, um meine erste Station beim Landgericht Tiergarten anzutreten, und Martin promovierte an der TU Berlin bei Prof. Dr. Karl-Georg Loritz am Lehrstuhl für Arbeitsrecht und finanzierte sich seinen Lebensunterhalt als Wissenschaftlicher Assistent. Auch dort war es ein Biergarten gewesen, der uns zueinander gebracht hatte. Und in den nächsten Tagen unseres Kennenlernens lag auch schon die erste kühne Vision unseres zukünftigen Lebens auf dem Tisch. Mir gelang es, Martin auszureden, dass Jura und die rein juristische Tätigkeit das einzig Wahre seien. Sicher, jetzt hatte man also den ganzen Schmarren studiert; sicher, als Rechtsanwalt war man selbständig und formal keinem Vorgesetzten ausgeliefert. Doch von dem, was man als reiner Dienstleister, der eigentlich nur seine Arbeitszeit verkauft, verdient, war noch keiner wirklich reich geworden. Und die Fiktion, sein eigener Herr zu sein, verblasste gegenüber der tatsächlichen Macht der Mandanten, die, je lukrativer, desto fordernder wurden. Ich kannte einige Anwälte, die wie Stiere am Nasenring durch die Arena gezogen wurden. Jura andererseits war ein perfekter Ausgangspunkt, um von dort mit einem weiteren, wirtschaftswissenschaftlichen Studium in der Tasche in Richtung Unternehmertum zu steuern. Das überzeugte wohl.
So beschlossen wir, unsere Rechtsstudien zu einem guten Abschluss zu führen und jeweils auch als Juristen zu promovieren, denn eine solche Promotion wäre nicht nur der Nachweis eines weit überdurchschnittlichen Examens, sondern Einstiegsvoraussetzung bei den sogenannten wirtschaftlichen Eliten, die es, wie ich aber erst jetzt weiß, gar nicht gibt. Und das Ganze sollte dann mit einem MBA-Studiengang, natürlich nur an einer der besten der internationalen Eliteschulen, gekrönt werden. Nun hatten wir beide schon unsere Ersten Staatsexamina abgelegt, beide mit Prädikat und damit unter den top fünf Prozent aller Teilnehmer, aber alle anderen Zutaten zu unserem genialen Plan fehlten noch.
Doch wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, und so trafen wir uns Jahre später 1991 an der renommierten Eliteuniversität INSEAD in Fontainebleau, am Jagdsitz der französischen Könige, wieder. Wir hatten beide unseren Weg gemacht, alle Vereinbarungen eingehalten. Martin beherrschte neben Englisch, Französisch und Italienisch eine Fremdsprache mehr als ich, nämlich Portugiesisch, und war insgesamt ein halbes Jahr schneller. Ich andererseits war mit einem abgeschlossenen Drittstudium und einem