Wilhelm Bartsch

Meckels Messerzüge


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und in der gegenüberliegenden Moritzburg zu hören gewesen war.

      Vom Großen Berlin nun, wo wir Meckels residieren, wissen die Hallenser allerdings selber nicht zu sagen, ob er eine sehr breite Straße oder eher ein schmaler Platz sei. Der Große Berlin, zumal mit dem Riesenhause deines Onkels Fritz, ist, wie du weißt, durchgehend auf das Zierlichste gepflastert. Die sauberen Häuserfronten stehen lotrecht und wie mit dem Lineal gezogen da. Nur das Riesenhaus kragt und ragt hervor wie ein General.

      »Das Riesenhaus ist ein steinernes Buch«, pflegte der Theologe Schleiermacher aus der Großen Märkerstraße zu dozieren, der auf die Schauseite des Riesenhauses sehen konnte, wenn er zum Beispiel mit neuen Studenten sich aus seinem Fenster nach rechts beugte. »Das Riesenhaus verkörpert eine gänzliche protomasonische Pansophie, durch die man führen könnte«, soll Schleiermacher in seiner Art mit den begeisterten Seufzern gesagt haben, »wenn man nur hineinkäme!«

      Der hervorragende Stadtklatsch von Halle wusste, dass Schleiermacher nur noch darauf warte, dass der so unendlich verdienstvolle, aber genauso unheimliche Meckel damit begönne, nicht nur seinen hinteren Laboratoriumsturm zu beflaggen mit Mägen, Därmen und Häuten, sondern auch noch aus dem präsentierenden Mittelrisalit des Riesenhauses seine Trockenpräparate, wild gemischt aus Mensch und Tier, heraushängen lasse.

      Meckel jedenfalls liebt sein Riesenhaus. Man konnte und kann ihn zuweilen dabei beobachten, wie er es im Ganzen und in entlegenen Einzelheiten studiert. Meckel liest es. Er hängt am Riesenhaus, so wie nur noch an dem im Gegenteil so unvollendeten und unvollendbaren Palazzo Donn’Anna in Neapel.

      Er hat im Riesenhaus sein Nacktschnecken- und Kopffüßer-Cabinet ganz zauberhaft einrichten lassen. Über dem Kamin ist folgender masonischer Spruch zu lesen: »Im milden Licht des Mondes / umhuellet vom stillen Mantel der Nacht / erwachen die verborgenen Wirklichkeiten / des menschlichen Wesens«.

      Meckel, wie viele gut zeichnen könnende Anatomen, ist im innersten Herzen ein Künstler, zumindest ein Kunstsammler. Er liebt die Italiener, davon die neapolitanischen und da besonders den Salvatore Rosa. Manche Wand des Riesenhauses ist allein ihnen zugedacht. Aber den Ehrenplatz, nämlich in Meckels Arbeitsraum mit dem Skelett unseres Vaters, hat die einzigartige Sepia des Nithart-Gothart. Sie ist in fast anbetungsgemäßer Höhe aufgehängt. Es ist die fahle Sepia-Zeichnung des Tricephalus, jenes dreigesichtigen Männerkopfes, welche sich Meckel als eine auch jetzt noch gültige Leihgabe der Würzburger Universität zu verschaffen gewusst hat. Gleich neben dieser ehrwürdigen Zeichnung hängt neuerdings wie ein dilettantisches Gekrakel und Gekleckse ein hingetuschter Schrecken, eine aus dem Handgelenk quasi weggeschüttelte Skizze von Meeresfrüchten, in Panik auf uns zu gleitende Wesen, die, ihrem Element entrissen, sich mit scharf bewaffneten Mäulern an uns zu rächen beabsichtigen. Man glaubt gar nicht, dass dergleichen Schrecken nicht von Delacroix, sondern von unserem Maître Ingres stammen.

      Aber die Hauptattraktion des Riesenhauses war und ist natürlich die Meckel’sche Sammlung. Schon im Jahre 1804 hatte der Kliniker Friedrich Gotthelf Voigtei nur für sein Fachgebiet sich gefreut, dass die Meckel’sche Sammlung »eine reiche Erndte für die pathologische Anatomie versprechen« würde. Diese Ernte fuhr dann Meckel in den folgenden Jahren vor allem erst einmal selber ein mit seinem mehrbändigen und Schule machenden »Handbuch der pathologischen Anatomie«. Inzwischen dürfte Meckels pathologische, vergleichendanatomische und teratologische Sammlung etwa sechzehntausend Gegenstände von höchster und teilweise von einmaliger Qualität umfassen. Gezeigt werden davon in des Wohngebäudes drittem Stock in sieben tapezierten Stuben und in einem Vorsaal osteologische und siebenhundert vollständige Thierskelette und siebenundsechzig Säugethierköpfe. Im rechten Flügel des Hinterhauses kann der gewöhnliche Besucher etwa tausendfünfhundert Feuchtpräparate in zwei langen Sälen und in zwei Stuben betrachten. Dazu befinden sich dort mehr als sechshundert größere, mittlere und kleine Gläser und Töpfe sowie zahlreiche Fässer, Eimer und Tonnen mit ganzen Thieren und Eingeweiden. Ein großer Teil davon ist mit dem anatomischen Messer gar nicht oder nur wenig berührt worden.

      Hauptattraktionen für Besucher aus aller Welt sind natürlich jene Zyklopen, Sirenen, Janusköpfe, Kopflose und in ihren Nabelschnüren strangulierte Föten, wie sie sich keine Monstrenwerkstatt von Neapel je ausdenken könnte. Aber ein Monstrencabinet ist das hier nicht. Meckels Cabinet besteht vielmehr aus lauter sich gegenseitig verdeutlichenden Sichtfenstern in die Gesetze und Daseinsweisen des Lebens. Somit ist es auch kein Friedhof. Deshalb müsste über der Eingangstür dieser Sammlung stehen: mors porta vitae – Der Tod ist die Pforte zum Leben.

      Das nicht zu leugnende Unheimliche aber, das von solchen Sammlungen ausgeht, liegt in etwas anderem. Derartige Föten sind schon von einer Wesensart, wie sie Meckel Friederike gegenüber im ersten Stadium ihrer wachsenden Liebe noch charmös beschrieben hat: Wesen der Ewigkeit, einer negativen Ewigkeit quasi, nämlich Leichen, aber von einer ungeheuerlichen Art. Es sind Leichen in Gläsern und in filigransten Mensuren, die nie geboren und die nie gestorben sind.

      Der oberste Kriegsgott Europas hatte sich also hierher zu Gast geladen. Meckel hasste den Krieg, weil der nicht sorgsam mit Gläsern und Mensuren umzugehen pflegte. »Ich bin nur ein Fabriquebesitzer«, sagte Meckel, »da ich eine fabrica aliena in Konkurrenz zu denen in London und in Paris aufgebaut habe. Aber ich will meine Konkurrenten nicht zerstören. Ich will sie nur in der Qualität und auch im Umfange meiner Waaren übertreffen.«

      Dann kamen die Tage, wo kaum mehr etwas, das zum preußischen Tross gehören konnte, das Klaustor Richtung Süden passierte. Nun war ein Andrang nach Norden, nach Berlin, nach Magdeburg, und nach Westen, nach Braunschweig, nach Hamburg entstanden. Die meisten Gefährte langten von Leipzig zur Weiterfahrt ein. Man sah etwa eine englische, ganz fashionable, aber schlecht geschlossene Equipage mit sechs Pagen darauf gepfercht; in der dieser folgenden soll die nachmalige Gattin des Königlich-Westphälischen Oberhofmeisters, Frau von Waldburg-Capustigall, mit ihren beiden Wachtelhündchen Blanchette und Mimi gefahren sein. Man sah allerlei Rumpelwagen, überdachte Landauer, hochrädrige, ungefederte Kaleschen mit Einschnallstühlen, nur hinten gefederte Chaisen mit Leinwandverdeck, abstrapazierte Ungetüme älterer Modelle, alle mit schwankenden Schachteln bepackt. Pakete hingen an den Seiten, sogar offene Anzüge, Uniformen – und in seinem eigenen Kabriolett verließ der Universitätstanzmeister Schallenwein die Stadt, angeblich um zu Hamburg an einem wichtigen Treffen verschiedenster Ballett- und Tanzmeister teilzunehmen. Alle abgehenden und durchfahrenden Diligencen waren hoffnungslos überfüllt.

      Lediglich die dottergelben Leberecht’sehen Kutschen zwischen Halle und Leipzig verkehrten wie immer pünktlich. Nur während der Eroberung von Halle soll eine davon ausgefallen sein.

      Henrik Steffens, Professor der Naturgeschichte und Mineralkunde in Halle, war gegen Mittag des 14. October aus dem Klaustor geritten, gut fünf preußische Meilen bis nach Delitz am Berge im Königreich Sachsen, und hatte, das Ohr am Boden, am heiligen römischen Erdreich deutscher Nation gehorcht. Er hatte als Norweger und preußischer Major in spe beschlossen, etwas zu tun. Es bebte. Die deutschen Kauplatten knirschten und zerrieben alle noch verbliebenen Zahnstummel.

      Ich traf Steffens so an, weil mich Meckel ebenfalls hierher nach Delitz am Berge geschickt hatte, um die Erde abzuhorchen. Wir hatten in unserem Laboratoriumsturm an einem Crocodil gearbeitet und auch einige Integumente zum Trocknen aus den Turmfenstern gehängt. »Diese Objekte können eigentlich in ihrem wesentlichen Wert gar nicht beschädigt werden, falls Kugeln hindurchgehen sollten«, hatte Meckel gesagt.

      »Er soll ja auch Doktor der Ballistik sein«, plapperte ich. »Aber wie das schon klingen würde: Doktor Napoleon, Kaiser der Franzosen! Ein Doktor Napoleon hätte in Austerlitz niemals gewonnen.«

      Da hatte mir Meckel mit zugleich wütenden und belustigten Seitenblicken den Befehl zum Ausritt nach Delitz am Berge erteilt.

      »Die Meckelen träumen in der Gegend herum und lachen sich auch noch eins!«, rief da der stadtbekannte Henrik Steffens, der norwegische Naturkundeprofessor in Halle. »Aber ihr Meckelen solltet am besten nachher schon den Kaiser-Thee und eine ernstere Miene als du aufsetzen. Wird denn auch das weltberüchtigte Geripp im Empfangs-Comite antreten?« Der an sich eher wortkarge Steffens hatte es in Halle zum Oberhaupt der Beredsamen und zum Universitätsfechtmeister mit mehr oder weniger deutschen Worten