Helmut Schwier

Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens


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Im Gottesdienst begegnet der Mensch unter den Bedingungen seiner Räumlichkeit, Leiblichkeit und Zeitlichkeit dem auf Raum, Zeit und Leib bezogenen Gott. Von hier aus erschließen sich auch die übrigen kirchlichen Handlungsfelder. Die auffällige und prominente Stellung der Bibel innerhalb der Praktischen Theologie H. Schwiers ist dabei nicht nur dem akademischen Werdegang des Jubilars und dem ungewöhnlichen interdisziplinären Zuschnitt seines Heidelberger Lehrstuhls zu verdanken, sondern in der Sache selbst begründet. Sie markiert das besondere Profil seines theologischen Denkens. Praktische Theologie als »Wahrnehmungswissenschaft« beginnt mit der Wahrnehmung der Bibel.

      Die in diesem Band versammelten Aufsätze wurden zwischen 1996 und 2018 publiziert und dokumentieren die Arbeit des Jubilars über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg. Sie sind verstreut an zahlreichen Orten in heute z. T. nur noch schwer erreichbaren Publikationen erschienen. Schon allein darum lohnt u. E. ihre gesammelte Veröffentlichung – freilich nicht im Sinne einer »Werkausgabe«, sondern allenfalls als eine Art Zwischenbilanz.

      Der 60. Geburtstag H. Schwiers ist dazu willkommener Anlass. Die abgedruckten Aufsätze mögen Lust wecken auf mehr – bei den Lesern ebenso wie beim Autor. Chronologisch gelesen zeichnen sie Entwicklungslinien und Dimensionen der Theologie H. Schwiers nach, die geprägt sind durch seinen akademischen Werdegang vom Neuen Testament hin zur Praktischen Theologie; als Sammlung machen sie zugleich den inneren Zusammenhang seines Denkens erkennbar. Daher sei zunächst an die wichtigsten biographischen Stationen seiner akademischen Laufbahn erinnert.

       Wegmarken

      Geboren wurde Helmut Schwier am 23. Dezember 1959 in Minden/Westfalen. Er besuchte das dortige Herder-Gymnasium und begann nach dem Abitur (1978) das Studium der Evangelischen Theologie, zunächst in Bethel, dann in Heidelberg. Im Herbst 1984 legte er bei der Evangelischen Kirche von Westfalen das Erste Examen ab. Gut drei Jahre später wurde er an der Universität Heidelberg im Fach Neues Testament promoviert mit einer Arbeit über die theologischen und ideologischen Faktoren der Tempelzerstörung im ersten jüdisch-römischen Krieg.1 Die Arbeit wurde von Gerd Theißen betreut.

      Von 1988–1991 war H. Schwier zweieinhalb Jahre als Vikar im Kirchenkreis Herford und nach dem Zweiten Examen fünf Jahre als Gemeindepastor tätig; regional engagierte er sich für die Jugendarbeit und die ökumenische Zusammenarbeit im Rahmen der ACK. Im Jahr 1996 wechselte er als Wissenschaftlicher Assistent für Praktische Theologie an die Kirchliche Hochschule Bethel (Lehrstuhl Prof. Dr. Traugott Stählin). Parallel übernahm er einen Lehrauftrag für Liturgik an der Hochschule für Kirchenmusik in Herford. An der Kirchlichen Hochschule Bethel habilitierte er sich im Jahr 2000 im Fach Praktische Theologie. Seine Habilitationsschrift behandelt die Entstehung und Konzeption des Evangelischen Gottesdienstbuches, der ersten gemeinsamen Agende lutherischer und unierter Kirchen in Deutschland und Österreich.2

      Zu diesem Zeitpunkt war er bereits seit einem Jahr in der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union (EKU) in Berlin tätig und Geschäftsführer des Sekretariats der Leuenberger Kirchengemeinschaft (heute: Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, GEKE). Unter anderem war er mit der Herausgabe des Lehrdokuments »Kirche und Israel« betraut, das 2001 auf der Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft in Belfast einstimmig angenommen worden war und erstmals einen europaweiten evangelischen Konsens zum Verhältnis von Kirche und Israel formulierte.3

      2001 folgte H. Schwier dem Ruf auf einen Lehrstuhl für Neutestamentliche und Praktische Theologie an der Universität Heidelberg. Zwei Jahre später wurde er dort in das kirchliche Amt des Universitätspredigers an der Heidelberger Peterskirche gewählt. Mit dem Lehrstuhl verbunden ist ein Lehrauftrag am Predigerseminar der Evangelischen Landeskirche in Baden.

      2005 übernahm H. Schwier die Leitung der in den 1970er Jahren von Rudolf Bohren gegründeten Predigtforschungsstelle und sorgte für deren institutionelle Verankerung als »Abteilung für Predigtforschung« innerhalb des Praktisch-Theologischen Seminars der Theologischen Fakultät. So hat er das Erbe Bohrens aufgenommen und in eigenständiger Weise weitergeführt, auch in der Verbindung zur societas homiletica und im Vorstand des »Ökumenischen Vereins zur Förderung der Predigt«. Predigtforschung, Homiletik und Predigtanalyse bilden in diesen drei ursprünglich von Rudolf Bohren gegründeten Einrichtungen ein homiletisches Dreieck, das Empirie, Theorie und Praxis verbindet.

       Gottesdienst

      Im Zentrum der Praktischen Theologie H. Schwiers steht der Gottesdienst. »Gottesdienst als Feier und Kommunikation des Evangeliums ist ein ebenso vielfältiges wie bezugreiches und ein, rezeptionsästhetisch gesehen, offenes Kunstwerk.«4 An dessen Komplexität arbeitet sich die Praktische Theologie H. Schwiers in immer neuen Anläufen ab. Das Ergebnis ist nicht eine in sich geschlossene systematische Darstellung, sondern eine Beschreibung, die empirische Wahrnehmung, interdisziplinäre Zugänge und theologische Reflexion in immer neuen Anläufen verbindet. Homiletische und rituelle Kommunikation stellen in ihrem wechselseitigen Zusammenspiel wie bei einer Ellipse die Brennpunkte dieses Beziehungs- und Kommunikationsgeschehens dar. Es lässt sich mit Hilfe unterschiedlicher »Codes« (ritueller, rhetorischer, dramaturgischer etc.) »lesen« und funktioniert als ausbalanciertes Verhältnis in der Vielfalt und im Zusammenspiel der einzelnen gottesdienstlichen Elemente. Die Komplexität dieses Geschehens in seinen Grundvollzügen fordert geradezu eine multiperspektivische Betrachtung. H. Schwier interpretiert es mit Hilfe hermeneutischer, historischer, sprechakt- und ritualtheoretischer, rezeptionsästhetischer Überlegungen und theaterwissenschaftlicher Ansätze, so dass sich vielfältige Impulse für die Praxis nicht nur des Gottesdienstes ergeben.

      Mit dem Verständnis des Gottesdienstes als »Kommunikation des Evangeliums« positioniert H. Schwier sich innerhalb der gegenwärtigen praktischtheologischen Forschung,5 freilich in eigenständiger Weise, in dem er die besondere Bedeutung der Bibel für dieses Kommunikationsgeschehen herausarbeitet.6 Grundlegend ist die Einsicht, dass die Christusbegegnung nicht unmittelbar, sondern grundsätzlich medial vermittelt geschieht. Insofern kommt der Bibel als erstem Medium des Wortes Gottes eine zentrale Bedeutung zu. In einer Interpretationsgemeinschaft, die weiter als die Kirche reicht, ist die Kommunikation des Evangeliums auf den hermeneutischen Streit der Ausleger ebenso angewiesen wie auf die gemeinschaftliche Feier im Gottesdienst. Die Differenzierung unterschiedlicher Funktionen und Zugangsweisen zur Bibel ermöglichen einen Sprachgewinn und Reflexionsimpulse, wobei die methodische Pluralität in Exegese und Lektüreformen nicht als Verhängnis, sondern als Chance begriffen und ideologiekritisch zur Geltung gebracht wird. Identitätsoffene und applikationsferne wissenschaftliche Lektüren werden nicht gegen engagierte Lektüreformen ausgespielt, die auf Identitätsbegründung und Veränderung der Praxis zielen, sondern befruchten einander gegenseitig. Dabei ermöglicht die Vielfalt biblischer Sprachformen, Gattungen und Motive im Anschluss an Paul Ricoeur nicht nur eine zielgerichtete und theologisch pointierte Reflexion des Bibeltextes, sondern bietet auch Handhabe zur sprachlichen Gestaltung der Predigt. Exemplarisch hat H. Schwier dies für die biblische Gattung der prophetischen Rede anhand der Predigten Hans Walter Wolffs vorgeführt.

      In der durch Interpretation und Gebrauch der Bibel eröffneten (gottesdienstlichen) Kommunikation des Evangeliums erfolgt die Begegnung mit Gott. Helmut Schwier geht es um die Verbindung unserer Wirklichkeit mit der Wirklichkeit Gottes. Der Gottesdienst ist kein heiliger, vom Alltag abzugrenzender Raum, sondern ein kommunikatives Geschehen, das Gottesdienst und Lebensalltag beieinander hält – eben als »Fest des Lebens«. Das unterscheidet Schwiers Zugang von einem mystagogischen Ansatz, der den Gottesdienst als »Weg im Geheimnis« begreift (M. Nicol, M. Josuttis), aber auch gegenüber einem kulturhermeneutischen Verständnis von Religion als Deutung (W. Gräb) und Sinnstiftung menschlicher Existenz. H. Schwier widersteht einer Abtrennung des Gottesdienstes vom Alltag ebenso wie seiner hermeneutischen Auflösung in den Alltag. Gottes Menschenfreundlichkeit im Evangelium und der Gottesdienst als Fest des Lebens bringen zusammen, was aufeinander zu beziehen aber doch zu unterscheiden ist: die Wirklichkeit Gottes und die Lebenswirklichkeit der Menschen, Gottesdienst und Alltag; das biblische und unser Reden von Gott, Gottes Wort und menschliche Erfahrung, homiletische und rituelle Kommunikation.

      H. Schwier plädiert dabei für die Wiederentdeckung der österlichen Dimension in Kirche und Protestantismus. Er wehrt sich dagegen, eine an der Passion Christi