Jerry Cotton

Der Krimi an sich


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Richter hat einmal in einem Arztprozess gegen einen Krebsarzt bei der Urteilsverkündung gesagt: »Das Gericht hat sich aufgrund der Sachverständigengutachten vollständige Kenntnisse über die Krankheit Krebs und deren Behandlungsmethoden verschafft.« (Ich zitiere aus dem Gedächtnis, aber im wesentlichen lüge nicht.) Es ist kein einfaches Los, Jurist zu sein, aber manchmal nützt es. Es gab einmal in Bayern einen Fall von Kindsmißhandlung, der die Öffentlichkeit erregte und zu den üblichen Reaktionen führte (Forderung nach Verschärfung der Gesetze, mehr Überwachungskameras, Aufklärung, Kastration aller Verdächtigen, mehr Geld, wofür auch immer). Der Bayerische Rundfunk rief mich an und bat mich um ein Interview. Ich sagte nicht schnell genug »Nein«, weshalb ich die Forderung nicht mehr abwehren konnte, als ich die Uhrzeit erfuhr (»Unser fröhlicher Morgenwecker um sechs Uhr in der Früh«). Mein damals noch kleiner jüngerer Sohn bekam Wind von der Sache und sagte zu mir: »Ich stelle mir den Wecker und werde neben Dir sein. Solltest Du gefragt werden, ob Du jemals ein Kind geschlagen hast und Du antwortest mit ›Nein‹, greife ich mir den Telefonhörer.« Der Morgen kam und graute. Schon um fünf Uhr war ich wach und gurgelte. Um sechs Uhr bezog mein Sohn neben mir und dem Telefon Stellung. Wir warteten. Kurz vor Schluß des fröhlichen Morgenweckers um acht Uhr kam der Anruf. Was ich denn von Kindsmißhandlung hielte, wurde ich als Experte gefragt. »Nichts« sagte ich. Was denn darauf stünde? Ich war auf diese Frage vorbereitet und hatte das Strafgesetzbuch vor mir liegen, aufgeschlagen bei den Körperverletzungsdelikten. Ich las die Antwort vor. Die Leute denken immer, so etwas wüssten wir Strafrechtler auswendig. Und dann kam die Frage aller Fragen. Ob mir denn selbst schon einmal die Hand ausgerutscht sei. Mein Sohn sah mich an. Ich sah ihn an. Im Hintergrund spielte eine Mundharmonika das Lied vom Tod. Jedenfalls hörte ich es. Clint Eastwood ritt in die Stadt mit den Worten: »Alles Weitere wird sich finden.« Mein Sohn beugte sich vor. Seine Hand schwebte Millimeter über dem Colt. Da fiel mir ein, daß wir Juristen ja ähnlich wie die Mediziner eine Sprache pflegen, die das gemeine Volk in Tombstone nicht versteht. Das war meine Rettung. »Gelegentliche leichte taktile Einwirkungen«, so hub ich an, »die zudem sozialadäquat sind, möchte ich nicht a priori ausschließen ...« Und so ging es weiter. Das erstaunte Bayern hörte zu. Mein Sohn war verwirrt. Er hat dann später Fortswirtschaft studiert, und ich denke, er weiß bis heute nicht, was eine »leichte taktile Einwirkung« ist. Ralf, solltest Du dieses Buch während der einsamen Stunden auf dem Hochsitz lesen – es ist eine Watschen.

      Als Professor gehöre ferner ich zur Fraktion der berufsmäßigen Rechthaber, was in einer Welt voller Ignoranten kein leichtes Los ist. Ich teile dieses Los mit den Lehrern und kann Ihnen versichern, es ist hart. Nicht grundlos erreicht kaum ein Lehrer das Pensionsalter. Bei uns ist das zwar anders; wir Professoren müssen keine Elternsprechstunden abhalten und können uns leicht gegen Klagen der Studenten wehren. Einen Anwalt, der mich einmal wegen einer mit »Ungenügend« bewerteten Strafrechtshausarbeit verklagen wollte, belehrte ich, daß die Universität Tübingen seit dem 15. Jahrhundert eine Körperschaft des Öffentlichen Rechts mit eigener Gerichtsbarkeit sei, weshalb er mich vor dem staatlichen Gericht nicht verklagen könne; wir wären insoweit autonom, wie man an der Existenz unseres Karzers sehen könne (den es tatsächlich noch gibt.) Er bedankte sich für die Aufklärung und ich habe nie wieder von ihm gehört. Wir haben also keinen Lehrerstreß und werden deshalb steinalt. Aber ein Gutteil unserer Zeit vertrödeln wir damit, den Kollegen nachzuweisen, daß diese im Unterschied zu uns Unrecht haben. Ein Kollege schrieb mir einmal: »Ihre Ausführungen zum Thema X sind falsch, weil Sie nicht verstanden haben, was ich alles nicht verstanden habe.« Ich arbeite heute noch an einem Antwortschreiben.

      Last but not least habe ich vor Jahren mein Jurastudium mit dem Schreiben von Krimis verdient. Begonnen habe ich mit Leihbüchern (wie sie heute ausgestorben sind – »Blaulicht in Manhattan« (ich weiß bis heute nicht, ob es nicht »Rotlicht« heißen müsste) und Heftchen-Romanen, etwa in den Serien »Kommissar X« und »Jerry Cotton« (siehe auch das Kapitel über den Heftchen-Krimi). Daß diese Tätigkeit bereits durch bloße Nachahmung erlernbar ist, stellte ich in dem Studentenheim fest, in dem ich damals wohnte. Es gab skrupellose Mitbewohner, wahre Schurken, die sich während meiner Abwesenheit an meine Triumph Schreibmaschine setzten (Schreibcomputer gab es damals noch nicht) und meine Geschichten fortschrieben, ohne daß ich es merkte. Auf diese Weise kam mir wertvolles Personal abhanden. Höchst verdächtige Personen, mit denen ich noch viel vorhatte, wurden in Feuergefechten in der New Yorker Unterwelt reihenweise niedergemäht und fielen damit als zu überführende Verbrecher aus. Ich merkte es nicht, der Verlag auch nicht, und als ich einmal einen längst verstorbenen Bösewicht am Schluß unter seiner Schuld im Geständnis zusammenbrechen ließ, löste das überraschte Leserbriefe aus. Den meisten Lesern fiel aber gottlob nichts auf. Der typische Heftchen-Leser jener Zeit war der Taxifahrer, den immer an der spannendsten Stelle ein Fahrgast störte, der zu einer Straße gefahren werden wollte, die er nicht kannte. Navis waren damals unbekannt. An ihrer Statt verwendete man einen Faltplan, bei dem sich die gesuchte Straße immer auf dem Knick befand. Das ist übrigens heute noch so. Wer einmal als Autofahrer am Knick dabei ist, etwa die Löwithstrasse in München-Schwabing zu finden, der weiß hinterher nicht mehr, daß der Gangster A1 Costello schon seit fünfzig Seiten tot ist.

      Übrigens habe ich kürzlich an einem Bahnhofskiosk gesehen, daß die Jerry-Cotton-Hefte immer noch verkauft werden und unentwegt neue produziert werden. Sogar ein neuer Jerry Cotton Film erschien 2010. 6 Ich schrieb daraufhin an den Verlag, wies darauf hin, daß Jerry nach meinen Berechnungen inzwischen neunzig Jahre plus X alt sein müßte, und bot ihm an, einen Krimi zu schreiben, der auf der Pflegestation eines Seniorenheims in Floriada spielt, wo Jerry im Rollstuhl dämmert und seine gelegentlichen luziden Phasen nutzt, um einem Massenmörder das Handwerk zu legen, der, ebenfalls im Rollstuhl sitzend, seine luziden Phasen nutzt, um die Mitbewohner des Heimes abzumurksen. Die Antwort des Verlages war förmlich und abweisend. Die Jungs nehmen Jerry Cotton richtig ernst. Er bringt anscheinend noch immer Geld. So habe ich diesen Krimi nicht mit letzter Tinte geschrieben.

      Bei der Aufzählung meiner besonderen Qualitäten für den Krimi will ich abschließend nicht verschweigen, daß ich im westlichen Kulturkreis der einzige akademisch gebildete Mensch bin, der jemals Menschenfleisch gefressen – pardon, verzehrt – hat und weiß, wie es schmeckt. Meine Frau mag diese Geschichte nicht, aber sie ist wahr, und ich erzähle sie immer dann gerne, wenn wir auswärts zum Essen eingeladen sind. Als Student trampte ich vor vielen Jahren einmal durch Griechenland. In einem Dorfladen irgendwo auf dem Peloponnes erwarb ich eine vergammelte Blechdose, die der Form nach Ölsardinen enthielt und der vergilbten Aufschrift nach aus der Zeit stammte, als Griechenland noch unter türkischer Herrschaft schmachtete. Ich verzehrte den Inhalt, und als ich die dritte Ölsardine abnagte, fiel mir auf, daß sie statt Gräten einen Knochen enthielt, an dessen Ende ein menschlicher Fingernagel hing. Ich will das hier nicht weiter ausführen, nur soviel: Menschenfleisch schmeckt nach Fisch!

      Also, um es kurz zu machen – Sie können das Krimischreiben lernen. Dieses Buch wird Ihnen dabei helfen. Fangen Sie einfach an und halten Sie sich nach der Lektüre dieses Buches (keinesfalls vorher!) an die alte russische Weisheit: »Probirski geht über Studirski«.

B. Theorie des Krimis

      I. Übersicht

      Der Philosoph Immanuel Kant hat einmal bemerkt, es gebe nichts praktischeres als eine gute Theorie. 7 Wer wie ich einmal im Leben Ikea-Möbel zusammengebaut hat, kann Kant nur zustimmen. Ich erinnere mich noch an mein erstes Billyregal, das ich auf dem Dachgepäckträger meines VW Käfers nachhause befördert hatte. Ich stand vor einem Haufen von Brettern mit angetackerten Plastiktütchen, in denen sich diverse Metallgegenstände sowie etwa hundert kleine Nägel befanden. Dazu gab es eine Gebrauchsanleitung, die am Rand chinesische (oder malayische? vielleicht auch arabische) Schriftzeichen aufwies sowie einen Text, der anscheinend von einem Chinesen (oder Malayen oder Araber) mit Hilfe eines Wörterbuches im Verhältnis eins zu eins ins Deutsche übersetzt war. »Man nehme dem Brett quer und flansche das Nut auf Loch inwendig ...« Es gab damals noch keine computergestützten Übersetzungsprogramme, sonst hätte ich dem Problem vielleicht in Verständigung nähergetreten gemacht geschafft gekommt getan – UFF. Ich war damals noch jung und wagemutig, meine kleinen Söhne sahen mich gläubig an, ich ging also frohgemut ans Werk, nahm dem Brett quer, längs,