Sigmund Freud

Die Traumdeutung


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Wissen beiseite, zeigt uns ethisch und moralisch stumpfsinnig. Wer sich im Wachen so benehmen würde, wie es der Traum in seinen Situationen vorführt, den würden wir für wahnsinnig halten; wer im Wachen so spräche oder solche Dinge mitteilen wollte, wie sie im Trauminhalt vorkommen, der würde uns den Eindruck eines Verworrenen oder eines Schwachsinnigen machen. Somit glauben wir nur dem Tatbestand Worte zu leihen, wenn wir die psychische Tätigkeit im Traum nur sehr gering anschlagen und insbesondere die höheren intellektuellen Leistungen als im Traum aufgehoben oder wenigstens schwer geschädigt erklären.

      Mit ungewöhnlicher Einmütigkeit – von den Ausnahmen wird an anderer Stelle die Rede sein – haben die Autoren solche Urteile über den Traum gefällt, die auch unmittelbar zu einer bestimmten Theorie oder Erklärung des Traumlebens hinleiten. Es ist an der Zeit, dass ich mein eben ausgesprochenes Resumé durch eine Sammlung von Aussprüchen verschiedener Autoren – Philosophen und Ärzte – über die psychologischen Charaktere des Traumes ersetze:

      Nach Lemoine (1855) ist die Inkohärenz der Traumbilder der einzig wesentliche Charakter des Traumes.

      Maury pflichtet dem bei; er sagt (1878, 163): »II n’y a pas de rêves absolument raisonnables et qui ne contiennent quelque incohérence, quelque anachronisme, quelque absurdité.«

      Nach Hegel bei Spina fehlt dem Traum aller objektive verständige Zusammenhang.

      Dugas sagt: »Le rêve c’est l’anarchie psychique affective et mentale, c’est le jeu des fonctions livrées à elles-mêmes et s’exercant sans contrôle et sans but; dans le rêve l’esprit est un automate spirituel.«

      »Die Auflockerung, Lösung und Durcheinandermischung des im Wachen durch die logische Gewalt des zentralen Ich zusammengehaltenen Vorstellungslebens« räumt selbst Volkelt ein (1875, 14), nach dessen Lehre die psychische Tätigkeit während des Schlafes keineswegs zwecklos erscheint.

      Die Absurdität der im Traume vorkommenden Vorstellungsverbindungen kann man kaum schärfer verurteilen, als es schon Cicero (De divinatione, II) tat: »Nihil tam praepostere, tam incondite, tam monstruose cogitari potest, quod non possimus somniare.«

      Fechner sagt (1889, Bd. 2, 522): »Es ist, als ob die psychologische Tätigkeit aus dem Gehirne eines Vernünftigen in das eines Narren übersiedelt.«

      Radestock (1879, 145): »In der Tat scheint es unmöglich, in diesem tollen Treiben feste Gesetze zu erkennen. Der strengen Polizei des vernünftigen, den wachen Vorstellungslauf leitenden Willens und der Aufmerksamkeit sich entziehend, wirbelt der Traum in tollem Spiel alles kaleidoskopartig durcheinander.«

      Hildebrandt (1875, 45): »Welche wunderlichen Sprünge erlaubt sich der Träumende z. B. bei seinen Verstandesschlüssen! Mit welcher Unbefangenheit sieht er die bekanntesten Erfahrungssätze geradezu auf den Kopf gestellt! Welche lächerlichen Widersprüche kann er in den Ordnungen der Natur und der Gesellschaft vertragen, bevor ihm, wie man sagt, die Sache zu bunt wird und die Überspannung des Unsinnes das Erwachen herbeiführt! Wir multiplizieren gelegentlich ganz harmlos: Drei mal drei macht zwanzig; es wundert uns gar nicht, dass ein Hund uns einen Vers hersagt, dass ein Toter auf eigenen Füßen nach seinem Grabe geht, dass ein Felsstück auf dem Wasser schwimmt; wir gehen alles Ernstes in höherem Auftrage nach dem Herzogtum Bernburg oder dem Fürstentum Liechtenstein, um die Kriegsmarine des Landes zu beobachten, oder lassen uns von Karl dem Zwölften kurz vor der Schlacht bei Pultawa als Freiwillige anwerben.«

      Binz (1878, 33) mit dem Hinweis auf die aus diesen Eindrücken sich ergebende Traumtheorie: »Unter zehn Träumen sind mindestens neun absurden Inhaltes. Wir koppeln in ihnen Personen und Dinge zusammen, welche nicht die geringsten Beziehungen zueinander haben. Schon im nächsten Augenblick, wie in einem Kaleidoskop, ist die Gruppierung eine andere geworden, womöglich noch unsinniger und toller, als sie es schon vorher war; und so geht das wechselnde Spiel des unvollkommen schlafenden Gehirns weiter, bis wir erwachen, mit der Hand nach der Stirne greifen und uns fragen, ob wir in der Tat noch die Fähigkeit des vernünftigen Vorstellens und Denkens besitzen.«

      Maury (1878, 50) findet für das Verhältnis der Traumbilder zu den Gedanken des Wachens einen für den Arzt sehr eindrucksvollen Vergleich: »La production de ces images que chez l’homme éveillé fait le plus souvent naître la volonté, correspond, pour l’intelligence, à ce que sont pour la motilité certains mouvements que nous offrent la chorée et les affections paralytiques…« Im Übrigen ist ihm der Traum »toute une série de degradations de la faculté pensante et raisonnante« (S. 27). Es ist kaum nötig, die Äußerungen der Autoren anzuführen, welche den Satz von Maury für die einzelnen höheren Seelenleistungen wiederholen.

      Nach Strümpell treten im Traum – selbstverständlich auch dort, wo der Unsinn nicht augenfällig ist – sämtliche logischen, auf Verhältnissen und Beziehungen beruhenden Operationen der Seele zurück (1877, 26). Nach Spitta (1882, 148) scheinen im Traum die Vorstellungen dem Kausalitätsgesetz völlig entzogen zu sein. Radestock (1879) u. a. betonen die dem Traum eigene Schwäche des Urteils und des Schlusses. Nach Jodl (1896, 123) gibt es im Traum keine Kritik, keine Korrektur einer Wahrnehmungsreihe durch den Inhalt des Gesamt-Bewusstseins. Derselbe Autor äußert: »Alle Arten der Bewusstseinstätigkeit kommen im Traume vor, aber unvollständig, gehemmt, gegeneinander isoliert.« Die Widersprüche, in welche sich der Traum gegen unser waches Wissen setzt, erklärt Stricker (mit vielen anderen) daraus, dass Tatsachen im Traum vergessen oder logische Beziehungen zwischen Vorstellungen verlorengegangen sind (1879, 98) usw., usw.

      Von den Autoren, die im Allgemeinen so ungünstig über die psychischen Leistungen im Traume urteilen, wird indes zugegeben, dass ein gewisser Rest von seelischer Tätigkeit dem Traume verbleibt. Wundt, dessen Lehren für so viele andere Bearbeiter der Traumprobleme maßgebend geworden sind, gesteht dies ausdrücklich zu. Man könnte nach der Art und Beschaffenheit des im Traume sich äußernden Restes von normaler Seelentätigkeit fragen. Es wird nun ziemlich allgemein zugegeben, dass die Reproduktionsfähigkeit, das Gedächtnis, im Traum am wenigsten gelitten zu haben scheint, ja eine gewisse Überlegenheit gegen die gleiche Funktion des Wachens aufweisen kann, obwohl ein Teil der Absurditäten des Traumes durch die Vergesslichkeit eben dieses Traumlebens erklärt werden soll. Nach Spitta ist es das Gemütsleben der Seele, was vom Schlaf nicht befallen wird und dann den Traum dirigiert. Als »Gemüt« bezeichnet er »die konstante Zusammenfassung der Gefühle als des innersten subjektiven Wesens des Menschen« (1882, 84 f.).

      Scholz (1887, 37) erblickt eine der im Traume sich äußernden Seelentätigkeiten in der »allegorisierenden Umdeutung«, welcher das Traummaterial unterzogen wird. Siebeck konstatiert auch im Traum die »ergänzende Deutungsfähigkeit« der Seele (1877, 11), welche von ihr gegen alles Wahrnehmen und Anschauen geübt wird. Eine besondere Schwierigkeit hat es für den Traum mit der Beurteilung der angeblich höchsten psychischen Funktion, der des Bewusstseins. Da wir vom Traum nur durchs Bewusstsein etwas wissen, kann an dessen Erhaltung kein Zweifel sein; doch meint Spitta (1882), es sei im Traum nur das Bewusstsein erhalten, nicht auch das Selbst-Bewusstsein. Delboeuf gesteht ein (1885), dass er diese Unterscheidung nicht zu begreifen vermag.

      Die Assoziationsgesetze, nach denen sich die Vorstellungen verknüpfen, gelten auch für die Traumbilder, ja ihre Herrschaft kommt im Traume reiner und stärker zum Ausdruck. Strümpell (1877, 70): »Der Traum verläuft entweder ausschließlich, wie es scheint, nach den Gesetzen nackter Vorstellungen oder organischer Reize mit solchen Vorstellungen, das heißt, ohne dass Reflexion und Verstand, ästhetischer Geschmack und sittliches Urteil etwas dabei vermögen.« Die Autoren, deren Ansichten ich hier reproduziere, stellen sich die Bildung der Träume etwa folgender Art vor: Die Summe der im Schlaf einwirkenden Sensationsreize aus den verschiedenen, an anderer Stelle angeführten Quellen wecken in der Seele zunächst eine Anzahl von Vorstellungen, die sich als Halluzinationen (nach Wundt richtiger Illusionen wegen ihrer Abkunft von den äußeren und inneren Reizen) darstellen. Diese verknüpfen sich untereinander nach den bekannten Assoziationsgesetzen und rufen ihrerseits nach denselben Regeln eine neue Reihe von Vorstellungen (Bildern) wach. Das ganze Material wird dann vom noch tätigen Rest der ordnenden und denkenden Seelenvermögen, so gut es eben gehen will, verarbeitet (vgl. etwa Wundt und Weygandt). Es ist bloß noch nicht gelungen, die Motive einzusehen, welche darüber entscheiden, dass die