sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen. Und der Junge? Würde es ihn noch härter treffen als sie, wehrlos, wie er war? Das Licht war nicht näher gekommen, aber der Mann war noch da, so nah, dass sie seine Schritte hören konnte. Ein piepsendes Geräusch ertönte, wie von einem elektronischen Gerät. Die Männerstimme sagte etwas. Dabei entfernte sie sich.
Das Mädchen lauschte angestrengt. Erst, als das Tor zugezogen wurde und das Klappen der Wagentür ertönte, erhob sie sich und spähte aus dem Fenster. Der Wagen fuhr an. Jetzt konnte sie im Schein der Straßenlaternen die Aufschrift an der Seite erkennen. »Security«, mehr verstand sie nicht. Es reichte, um sie aufatmen zu lassen. Der Wachdienst war hier gewesen. Nur der Wachdienst. Auch der hätte sie finden können und das wäre nicht gut gewesen. Aber nichts war so schlimm wie GOTT.
Gut, dass der Junge all das verschlafen hatte. Jetzt legte auch sie sich hin, richtete sich auf dem harten Holzboden des Ausstellungspavillons ein, in den sie sich geflüchtet hatten. Morgen früh mussten sie hier raus sein, bevor die ersten Mitarbeiter kamen. Sie trug keine Uhr, aber ihr Empfinden sagte ihr, dass sie bis dahin noch ein paar Stunden Schlaf tanken konnte. Und sobald draußen die Sonne aufging, würde sie wach werden. Sie legte den Arm unter den Kopf und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Es fiel ihr nichts ein.
20
Lena saß in einem Café am Hafen, um vor dem Abendessen ein Glas Wein zu trinken. Sie schrieb dabei eine Ansichtskarte an Frau Kasulke. Noch war ihr nicht eingefallen, auf welchem Weg sie sich im Hotel umsehen konnte. Also schrieb sie in der Zwischenzeit der kranken Hausmeisterin einen Gruß. In der Hoffnung, dass die sich darüber freuen würde.
»Holà«, grüßte jemand. Die Frau im Leinenkleid nahm am Nebentisch Platz.
Lena sagte »Hallo« und schrieb weiter. Erst, als sie fertig war, die Marke aufgeklebt und den Kugelschreiber in ihrer Umhängetasche verstaut hatte, nahm ihre Nachbarin das Gespräch wieder auf. Zunächst auf Spanisch, als Lena ihr mitteilte, dass sie die Sprache nicht beherrschte, fuhr die Spanierin in perfektem Deutsch mit einer leichten spanischen Melodie darin fort.
»Wir haben uns am Hotel gesehen«, stellte sie fest. »Wohnen Sie dort?«
Lena zögerte, zu antworten. Wollte die Frau Smalltalk machen, oder gab es einen Grund für ihre Frage?
»Nein. Ich habe jemanden gesucht, der dort eventuell seinen Urlaub verbringt. Aber ich habe ihn nicht getroffen«, erwiderte sie schließlich. »Und Sie?«
»Ich habe fotografiert. Der Blick aufs Meer von dort ist herrlich.«
Lena hob zweifelnd die Brauen. Es gab sicherlich noch mehr Stellen, von denen aus man tolle Fotos knipsen konnte. Aber sie sagte nichts dazu.
»Haben Sie Kinder?« Die Frau rührte etwas zu heftig in ihrem Kaffee.
»Nein.« Lena lehnte sich zurück und betrachtete ihre Nachbarin mit zusammengekniffenen Augen. »Sie?«
»Ich ebenfalls nicht.« Der Löffel wurde aus dem Kaffee gezogen und landete auf der Untertasse. »Will nur ein paar Tage ausspannen. Ein bisschen Sonne und Meer genießen.«
Die Spanierin trank ihren Kaffee aus, legte ein paar Münzen auf den Tisch und erhob sich. »Einen schönen Tag noch.« Mit diesen Worten ging sie davon.
Lena blickte ihr hinterher. Bevor die Frau gekommen war, hatte sie nach einem Plan gesucht. Nun glaubte sie, ihn gefunden zu haben.
21
Die Kinder tobten unbeschwert herum, gelegentlich ermahnt von einer der Erzieherinnen. Das Mädchen stand außerhalb des Kindergartens und sah ihnen durch den Zaun hindurch zu. Der Junge hatte seine Hand in ihre geschoben. Sie war kühl und klebrig. Dennoch hielt sie sie fest.
Sie hatten den Gartenpavillon auf dem Ausstellungsgelände des Baugroßhandels verlassen, ohne dass sie gesehen wurden. Kaum jemand nahm von ihnen Notiz, als sie durch die Straßen liefen. Die meisten Menschen starrten auf die Displays ihrer Telefone oder musterten sie nur beiläufig. Nur eine Frau hatte empört geschnaubt, als sie neben ihnen an einer Ampel wartete. Sie war demonstrativ zwei Schritte von ihnen weggegangen und das Mädchen dachte, dass sie vermutlich beide nicht so gut rochen.
Sie betrachtete die schmutzigen Socken des Jungen. Er brauchte dringend ein paar Schuhe, konnte kaum noch laufen. Zunächst hatte sie daran gedacht, sich in den Kindergarten zu schleichen. Doch dann kam ihr eine bessere Idee. Am anderen Ende des Geländes lag eine Grundschule, daneben eine Sporthalle.
»Warte hier«, wies sie den Jungen an und zeigte auf eine rote Bank an der Grünfläche hinter ihnen. »Ich komme schnell zurück.« Er setzte sich brav hin und sie zog ihm einen Socken aus. »Kriegst du gleich zurück«, erklärte sie.
Die Turnhalle roch muffig, irgendwo wurden Bälle auf den Boden gedroschen. Das Mädchen huschte durch die Gänge, bis es zu einer Umkleidekabine kam. Mädchen. Sie ging weiter, bis zu den Jungs. Horchte. Niemand war hier draußen. Sie drückte die Tür auf. Auch hier alles ruhig. In der Mitte zwei Reihen Spinde, mit dem Rücken zueinander. Davor lange Bänke. An Haken hingen Jacken und Turnbeutel, darunter in wildem Durcheinander Schuhe. Sie suchte das kleinste Paar aus, das sie finden konnte, hielt den Socken dran. Die mussten passen. Sie blickte sich um, griff nach einem der Stoffbeutel. Als sie den Inhalt sah, kam ihr eine Idee.
Wenige Minuten später ging sie noch einmal in die Mädchenumkleide, machte sich auch hier systematisch auf die Suche. Noch bevor sie fertig war, hörte sie Schritte. Jemand kam genau auf den Raum zu. Schnell setzte sie sich auf die Bank, tat, als würde sie ihre Schuhe ausziehen. Die Tür öffnete sich. Ein Mädchen stand da, wohl ein paar Jahre älter als sie, das dunkle Haar akkurat gescheitelt und zu zwei seitlichen Zöpfen gebunden. Getöntes Lipgloss ließ es apart aussehen. »Klara nicht hier?«
Sie schüttelte den Kopf, die Tür schloss sich, die Schritte entfernten sich. Sie beeilte sich nun, aus der Turnhalle heraus zu kommen. Der Junge saß auf der Bank, die Beine schlenkerten in der Luft. Er sah so verloren aus, wie er war.
»Schnell, zieh das an!«, sagte sie und reichte ihm seinen Socken und die Schuhe. Sie passten und sie atmete auf. Dann gab sie ihm einen der drei prall gefüllten Beutel, die sie bei sich trug. »Ich hab uns was zu essen besorgt. Und Saft. Und Schokoriegel.«
Weiter hinten trat jemand gestikulierend aus der Tür der Turnhalle. Das Mädchen blickte über ihre Schulter zurück. »Los, weg hier«, murmelte sie und zog den Jungen mit sich, der verlor beinahe den Beutel, weil er nach dem Stofftier griff, das noch auf der Bank lag.
»Hallo, Ihr da!«, schrie jemand. Es war die Bezopfte. Das Mädchen drehte sich nicht mehr um. Sie sprintete mit dem Jungen an der Hand den Fußweg entlang, am Außengelände des Kindergartens vorbei, in dessen Garten jetzt Ruhe eingekehrt war. Frühstückszeit. Sie bogen in eine mit Bäumen gesäumte Allee ab, rannten weiter durch eine schmale Straße. Bis sie zu einer winzigen Grünanlage kamen. Dahinter lagen Reihenhäuser, alles schmuck, mit ordentlich gestutztem Rasen und beschnittenen Hecken.
Ob man sie noch verfolgte? Sie wagte nicht, sich umzudrehen, zog den Jungen weiter, durch den Durchgang zwischen zwei Häusern, hinter denen ein schmaler Weg entlang eines Waldstücks lief. Schilder wiesen zu einem Sportplatz. Von irgendwoher hörte sie laute Rufe. Sie erschrak, bevor sie realisierte, dass auf einem naheliegenden Gelände Fußball gespielt wurde. Die Turnbeutel schlugen heftig gegen ihre Beine, sie wagte nicht, stehenzubleiben, um sie sich über die Schulter zu hängen. Der Junge konnte nicht mehr, er stolperte, wäre fast gefallen.
Gleich wird er wieder anfangen zu heulen.
Das Mädchen ließ seine Hand los. Sie konnte ihn nicht mehr mitnehmen. Wusste selbst nicht, wohin sie eigentlich wollte. Sie musste sich verstecken, noch ein paar Tage durchstehen, zu Geld kommen, in Ruhe nachdenken. Jetzt erst einmal von dem Pfad weg. Sie bog nach rechts ab, lief durchs Dickicht. Ihr eigener Atem dröhnte ihr in den Ohren. Sie spürte Zweige über ihre Haut kratzen. Weiter,