Regina Mars

Milan


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würde. Aber der Bürgersteig war leer.

      3. Brüder?

      Die Deckenlampe flammte auf und warf harte Schatten auf die Bandplakate im Flur. Milan schmetterte die Wohnungstür hinter sich zu und stöhnte leise. Er hatte viel zu viel getrunken. Aber nicht zu viel, um noch ein paar Zeilen zu schreiben. Fluchend streifte er die Stiefel ab und schleuderte sie auf die dunklen Holzdielen. Er polterte in die Küche, ließ sich ein großes Glas voll Leitungswasser ein und wartete, dass der Schwindel sich legte. Dann zog er ins Arbeitszimmer um.

      Er hatte Jules die Wahrheit gesagt: Er wohnte in einer Zweizimmerwohnung. Beide Zimmer waren gigantisch. Sein Schreibtisch wirkte fast verloren in der Mitte des riesigen, von Bücherregalen gesäumten Raums mit den hohen Stuckdecken. Milan ließ sich im Ledersessel davor nieder und klappte den Laptop auf. Das Licht ließ er aus. Er schrieb gern im Dunkeln. Seine Texte wurden besser, wenn er nicht ahnte, was in den Ecken des Raums lauerte. Zumindest bildete er sich das ein.

      Er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, was er zuletzt geschrieben hatte. Der todkranke Detektiv hatte seinen Nachbarn gefunden, erstickt an einer Einhornspardose, die eine besondere Bedeutung hatte. Welche, das wusste Milan noch nicht. Rob plante seine Romane im Voraus, er nicht. Er liebte es, sich ins Unbekannte zu stürzen und erst beim Schreiben zu erfahren, wohin die Reise ging. Schritt für Schritt das Geheimnis zu entdecken, genau wie damals, als er auf Jules' Bett gesessen und Seite an Seite mit ihm gelesen hatte …

      Milan war so ein Trottel gewesen. Einmal hatte er darauf bestanden, dass er unbedingt das Buch lesen musste, das Jules gerade las, nur, damit sie gemeinsam die Köpfe hineinstecken mussten. Nur, damit er Jules' Geruch nach warmer, scharf gewürzter Milch riechen konnte. Nur, damit er sich vorstellen konnte, die letzten paar Zentimeter zu überbrücken und seine Wange zu küssen. Seine Wange! Schwer zu glauben, dass er einmal so unschuldig gewesen war. Damals hatte er sich ein Kissen in den Schoß drücken müssen, damit Jules nicht merkte, wie er auf ihn reagierte.

      Vielleicht hat er es gemerkt, dachte Milan. Ich war nie so schlau, wie ich geglaubt habe. Damals nicht und heute erst recht. Wahrscheinlich hat er es gemerkt und nichts gesagt. Jules war immer höflich, sogar als Teenager.

      Der hatte stets gewartet, bis Milan ebenfalls am Ende der Buchseite angekommen war, bevor er umgeblättert hatte. Egal, wie lange es gedauert hatte, dank Milans Doppelbelastung aus schlechtem Lesevermögen und verzweifelter Erregung.

      Der Nachbar, dachte Milan. Die Einhornspardose. Konzentration. Was ist sie? Ein Erinnerungsstück? Eine Botschaft? Was für eine Botschaft? Ob Jules immer noch mit dieser Frau zusammen ist? Sie haben glücklich ausgesehen, aber das ist lange her. Vielleicht … Ja klar. Vielleicht haben sie sich getrennt und dass ihr euch heute zufällig getroffen habt, ist Schicksal und ihr seid füreinander bestimmt. Schreib doch ein Buch darüber. Du könntest Rob Konkurrenz machen mit dem Kitsch.

      Wütend starrte er auf den Bildschirm. Er hätte mit in die Manobar gehen sollen. Was aufreißen. Sich den Gedanken an Jules aus dem Schädel ficken. Jules, der zum Anknabbern ausgesehen hatte. Zum Anbeißen, zum Anbeten. Ein tiefes Knurren entkam Milans Kehle.

      »Was ist mit der Scheiß-Spardose?«, fragte er und tippte es auch gleich ein.

       »Es ist ein altes Modell«, sagte der Schwächling vorsichtig. Wie war so einer Polizist geworden? Als Berger noch selbst aktiv gewesen war, hatten sie einen Namen für solche Luschen gehabt. Kanonenfutter. Aber heute nahmen sie anscheinend jeden in die Truppe auf.

       »Und weiter?« Berger machte einen Schritt auf den Mickerling zu. Der sah aus triefenden Welpenaugen zu ihm auf.

       »Mehr wissen wir noch nicht.«

       Er erinnerte Berger an jemanden … Richtig, an seine eigene Mutter. Die hatte auch so geschaut, als wäre die Welt gemein zu ihr und als hätte sie keine Ahnung, was alle von ihr wollten. Egal, wie viel Scheiße sie gebaut hatte. Damals, als sie mit diesem Kerl zusammengekommen war, auch so einem Waschlappen, dem Filialleiter in dem Supermarkt, in dem sie damals gearbeitet hatte …

      Milan runzelte die Stirn, aber seine Finger tippten weiter. Worauf wollte dieser dämliche Detektiv hinaus?

       Berger hätte den Kerl fast vergessen, wenn sein Sohn nicht gewesen wäre: blond, schmächtig, ein Streber. Ein Feigling und nett, viel zu nett. So nett, dass er einen Trottel wie ihn willkommen geheißen hatte. So verdammt nett, dass er sein halbes Zimmer für ihn geräumt hatte und …

      »Scheiße, Jules. Raus aus meiner Story!« Milan stützte den Kopf in die Hände.

      Er brauchte eine Kippe. Aber selbst die kalte Luft auf dem Balkon half nicht. Er sah auf die leeren Pflanzenkübel, die er als Aschenbecher benutzte und stöhnte leise. Wahrscheinlich musste es einfach raus. All dieser neu aufgewühlte Scheiß, Jules, dessen Vater, Milans verdammte Mutter und seine eigene Blödheit, damals wie heute …

      Tonnenschwer schleppte er sich an seinen Schreibtisch.

      »Na gut«, murmelte er. »Aber nur einmal.«

      Milan war ein Vollidiot, tippte Milan.

      Milan war ein Vollidiot. Er hatte gedacht, die Liebe würde einen erwischen wie ein Fausthieb. Man dreht sich um, und zack, liegt man am Boden. So hatte es seine Mutter immer beschrieben. Er hätte sich nicht wundern sollen, dass sie unrecht hatte. Hatte sie meistens. Die Liebe hatte sich angeschlichen wie ein tödlicher Virus. Erst merkte man nichts, dann kribbelten die Gelenke, einen Tag später tropfte die Nase, dann hustete man und dann war es zu spät: Man war tot. Oder verliebt. Wie hätte er auch ahnen sollen, dass dieser blasse Streber ihn ins Unglück reißen würde? Als er den das erste Mal gesehen hatte, hätte er ihn am liebsten ausgelacht. Diesen Schwächling, der fröhlich lächelnd sein halbes Zimmer aufgegeben hatte, als Milan und seine Mutter eines Nachts vor der Tür gestanden hatten. Tropfnass vom Regen und heimatlos. Wie immer war Milans Mutter schuld gewesen.

      Sie war ein Junkie. Dabei trank sie nicht, nahm keine Drogen und rauchte fast nie. Stattdessen war sie süchtig nach Liebe. Nein, nicht Liebe. Nach Verliebtheit. Nach dem Kribbeln ganz am Anfang, nach der Hoffnung, nach dem Traum, dass dieser Kerl, dieser, endlich der Richtige sein würde. Der, der ihr Leben zum Besseren wenden würde. Und auf dem Weg von einem Kerl zum nächsten verhielt sie sich nicht gerade wie eine Prinzessin. Als sie vor Jules' Tür aufgetaucht waren, hatte sie ihren letzten Freund seit Wochen betrogen. Mit ihrem Filialleiter. Jules' Vater Albert. Der war leicht überfordert gewesen, hatte aber trotzdem den Fehler gemacht, sie hereinzulassen. Er hatte ja nicht ahnen können, was er sich da ins Haus holte.

      Nein, dachte Milan. Es klingt nicht richtig. Falsche Zeitform?

      Ich bin fünfzehn und habe einen neuen Bruder. Nicht, dass ich darum gebeten habe. Er selbst meint, er wäre jetzt mein Bruder. Der Streber schaut mich mit seinen bebrillten Kuhaugen an, lächelt schief und sagt es:

      »Dann sind wir jetzt Brüder, oder?«

      Ich penne seit einer Woche auf einer verdammten Luftmatratze in seinem Zimmer, während meine Mutter seinen Vater vögelt, so laut, dass wir kaum schlafen können. Manchmal schauen wir uns peinlich berührt an, wenn die Geräusche aus dem Nebenzimmer Schlachthofstärke erreichen. Er liegt auf seinem Bett, wo er irgendwelche langweiligen Wälzer liest … Der Trottel liest? Welcher Mann liest freiwillig? Und dann auch noch so öffentlich. Außerdem versucht er dauernd, sich mit mir anzufreunden. Als ob ich mit so einem Bücherwurm … Was labert der Idiot?

      »Brüder?« Ich sehe ihn ungläubig an. »Wir?«

      »Na ja, deine Mutter und mein Vater …« Er zuckt mit den Achseln.

      »Das hält nicht«, sage ich.

      »Woher willst du das wissen?«, fragt der Trottel.

      »Es hält nie.«

      »Oh.« Er sieht auf den komischen Wälzer in seinem Schoß. »Aber was, wenn es diesmal anders ist?«

      »Anders.«