Jakub Małecki

Rost


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den sie wahrscheinlich mehr bedauerte als liebte, obwohl sie ihn lieben wollte, ihn lieben sollte, schließlich war er ihr Enkel.

      »Schläfst du noch nicht, Szymek?«

      Er schüttelte den Kopf.

      »Weißt du, ich hab eine neue Waschmaschine gekauft, aber die alte lasse ich natürlich da, du kannst dann – na ja, wie du willst. Ich wollte dich fragen, ob es dich nicht stört, wenn ich jetzt die Waschmaschine anschalte. Etwa für eine Stunde.

      Sie dachte, er werde nicht antworten. Er sah immer noch zum Fenster hinaus, als wäre sie gar nicht da; als würde man mit sieben Jahren nicht auf die hören, die über siebzig sind.

      »Ich glaub nicht.«

      »Dann schalte ich sie an. Falls sie dich stört, dann ruf mich, und ich mach sie aus. So wichtig ist Sauberkeit auch wieder nicht.«

      Den Satz bereute sie sofort, denn er klang nicht witzig, er klang nach gar nichts, im Übrigen hatte sie noch nie Humor gehabt. Doch Szymek nickte und lächelte ein wenig, wohl zum ersten Mal, seit sie zu zweit waren. Sie lächelte zurück, ging nach unten und schloss sich in dem kleinen Zimmer neben der Treppe ein. Und dann ganz schnell: Couch, Kissen. Sie heulte und schämte sich dafür. Dann ging sie wieder nach oben und machte die Wäsche. Als sie sich endlich ins Bett legte, zählte sie die Tage an den Fingern ab, und ihr wurde klar, dass Michał heute Geburtstag hatte, seinen fünfundsechzigsten.

      Fünfundsechzig Jahre. Das konnte doch nicht sein. Sie war doch mit ihm spazieren gegangen, als er gerade sprechen lernte, hatte ihm mit dem Nachtkrabb gedroht, wenn er nicht brav war, hatte mit ihm Kartoffelpuffer gebacken, wenn die Eltern nicht da waren. Sie konnte sich an seinen blonden Schopf erinnern und daran, dass er bei jedem Geräusch am Fenster mit den Achseln gezuckt und gesagt hatte: »Vielleicht ein Smetterlin, vielleicht ein Vodel.«

      So ein Junge konnte nicht fünfundsechzig sein, das war erstens albern und zweitens ungerecht. Sie selbst war einundsiebzig, und auch das war ungerecht, einundsiebzig waren alte Damen, aber doch nicht sie. Sie war schließlich ein Kind und lief übers Bett, als die Bomben fielen; sie war ein Mädchen und floh ins Haus des alten Bergbauern Kłoda und kam später zurück, im Heu auf dem Wagen versteckt; sie war eine Frau und lag nackt neben dem einzigen Menschen, den sie im Leben je liebte und dem sie ins Ohr flüsterte: »Mit dir könnte ich sterben.«

      Doch plötzlich stand alles Kopf: Der Unsichtbare war verschwunden, dafür war Eliza erschienen, dann kamen Falten, Probleme und Asphalt auf den Straßen von Chojny, ein Mensch nach dem anderen schwand dahin, die Gesundheit und die Kräfte schwanden, an der Wand im Salon verschwand ein Stück Putz, schließlich verschwand auch Eliza, und nur dieser zarte siebenjährige Junge war noch da.

      Abends trieb sich der Allmächtige ums Haus herum. Szymek hörte, wie er in den Bäumen rauschte, wie er über das Dach schlurfte, wie er den kleinen Hund der Nagórnys neckte. Er kam nicht jeden Tag. Lange warme Abende mied er. Er mochte lieber schlechtes Wetter. Wind, Regen, am besten Gewitter. Dann tobte er. Er ging ums Haus herum, zerrte an den Dachrinnen, zerbrach Zweige und schlug gegen den Fenstersims. Er wusste, wo Szymeks Zimmer lag. Manchmal hörte der Junge, wie er das Fenster einzudrücken versuchte. Wütend peitschte er den Regen.

      Zum ersten Mal war er nach dem Begräbnis der Eltern gekommen. Szymek hörte ihn schon kurz nach Einbruch der Dämmerung. Er schlief nicht und hörte ihn die Mauer entlangstreichen. Der Allmächtige zog leicht am Fenstersims, wie zur Probe, dann schlappte er übers Dach. Szymek hatte Angst, unter der Decke hervorzukriechen, zu schreien, nach Großmutter zu rufen. Reglos lag er da und versuchte nicht zu atmen. Er kniff die Augen zu und horchte. Als die Geräusche verstummten, griff er nach dem Heizkörper und hielt sich daran fest, bis er einschlief. Am nächsten Morgen holte er sich aus der Garage ein Stück weiße Schnur vom Mähbinder; seither band er vor dem Schlafen immer das Bein an einer der dicken, kalten Rippen fest. Es kam vor, dass er nachts aufwachte, wenn die Schnur ihn ins Fleisch schnitt – dann machte er sie im Halbschlaf ab und kroch wieder unter die Decke. Doch meistens schlief er die ganze Nacht durch, angebunden, in Sicherheit.

      Ganz deutlich zeigte sich der Allmächtige nie. Szymek nahm ihn aus dem Augenwinkel wahr, oder er sah ihn in der Ferne durch die schwarzen Bäume im Obstgarten huschen. Der Allmächtige war dunkel und hatte keine deutlichen Konturen. Einmal erinnerte er an einen Stachelbeerstrauch, ein andermal wand er sich dicht an der Erde, im wogenden Gras verborgen.

      Morgens war er dann weg. Morgens wurde Szymek vom Geräusch der Kaffeemühle geweckt. Großmutter saß mit der Mühle im Sessel, in der Nähe der Treppe; sie drehte wie verrückt, und das Rattern erfüllte das ganze Haus. Den ersten Kaffee trank sie immer draußen, auf der seit Jahren nicht fertiggestellten Terrasse. Aufrecht stand sie auf dem Betonrechteck, den Blick auf die Birken, das Gemüsebeet und den Kaninchenstall gerichtet. Manchmal stellte sie den Kaffee an der Tür ab und stapfte langsam durchs Gras, um sich einen der verdrehten Apfelbäume anzusehen. Dann ging sie zurück und trank weiter. So machte sie es jeden Tag.

      Später frühstückten sie. Er musste aufstehen, trotz Ferien. Also stand er auf, doch zum Frühstück musste man angezogen sein, nicht wie zu Hause – zu Hause durfte er eine Weile im Schlafanzug bleiben, und wenn er wollte, und das war immer, bekam er Hefezopf mit Nutella. Hier war nichts zu machen, Nutella gab es nicht, weil ungesund, es gab höchstens verschiedene Marmeladen, alle furchtbar sauer, und so aß er sein Brot mit Wurst oder Pastete, was fast genauso furchtbar schmeckte.

      Nach dem Frühstück fuhren sie zum Friedhof. Vor dem Tor kaufte Großmutter zwei Grablichter. Sie tauschte sie gegen die vorherigen aus, auch wenn die noch brannten. Immer rückte sie einen Kranz oder ein Band zurecht, wenn auch nur einen Zentimeter. Sie betete nicht, schloss nur die Augen und stand da, ohne etwas zu sagen. Szymek guckte auf die zwei weißen Schilder, auf denen die Namen Eliza und Telesfor standen, wandte den Blick ab und sah dann rasch, unerwartet wieder hin, aber die Namen auf den Schildern waren immer noch dieselben. Eliza, Telesfor. Wenn sie gingen, wobei sie ihn vor sich herschob, brummte Großmutter vor sich hin:

      »Morgen kommen wir wieder.«

      Auf dem Heimweg hielten sie manchmal an, um ein Eis zu essen. Sie sprachen nicht viel. Von einigen belauschten Gesprächen wusste Szymek schon, was geschehen war. Er wusste, dass seine Eltern, aus Warschau kommend, kurz vor der Abfahrt von der Hauptstraße aus unbekannten Gründen gegen einen Baum gefahren waren. Er wusste: eine Tragödie, so jung, die Einzige aus Chojny mit einer Ausbildung im Ausland, guter Gott, so ist das Leben.

      Wenn sie das Eis gegessen hatten, fuhren sie heim. Großmutter zog sich um und ging zu den Kaninchen. Er mit ihr, weil sie es so wollte. Das musst du lernen, erklärte sie, wenn er sagte, er will nicht, er mag nicht. Er stand hinter ihr, wenn sie immer mit den gleichen Dingen beschäftigt war: Köttel, Körnerfutter, Wasser, Heu, manchmal ein halber Salatkopf, manchmal das Versetzen eines Kaninchens in einen anderen Käfig, um es gleich darauf wieder herauszuholen.

      Erst wenn sie damit fertig war, konnte er tun, was er wollte. Er hatte bis zum Mittagessen Zeit. Nach dem Essen musste er mit ihr noch in den Heizkeller gehen, wo die Wachteln wohnten, danach hatte er endlich seine Ruhe. Bis zum nächsten Tag, wo alles wieder von vorn losging: Frühstück, Friedhof, Kaninchen.

      Auch die Wochentage hatten ihre Ordnung. Freitags fuhren sie in die Stadt zum Einkaufen. Er lenkte den Wagen. Manchmal durfte er sich in der Zeitschriftenabteilung ein Comic-Heft mit Geschichten über Dagobert Duck und all die anderen holen. Meistens nicht. Samstags gab es eine Stunde Gymnastik und abends wurden Bücher gelesen, sonntags lief eine Tiersendung im zweiten Programm, nach dem Mittagessen gab es Nachtisch, und später schaute man feierlich zusammen die Serie Im Guten und im Schlechten. Montagabends kamen zwei Damen zum Kartenspielen, dienstags musste man zu Herrn Romek fahren, der von Großmutter Eier kaufte. Mittwochabends hängte Szymek einen leeren Futtersack an den Zaun, denn Donnerstagmorgens kam der Wagen von Naturka. Man hörte ihn schon von Weitem. Die lebhafte Melodie ergoss sich über Chojny und lockte die Menschen aus den Häusern. Das gelbe, schlammbeschmierte Auto mit dem Lautsprecher auf dem Dach stoppte bei den ausgehängten Säcken und den auf die Straße gestellten Schubkarren. Für einen Moment verstummte