Christian Morgenstern

Stufen: Eine Entwickelung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen


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      Manchmal meine ich, mich definieren zu sollen als einen wehr- und hilflos dem Großen preisgegebenen Menschen. Auf mich kann eine Seite Lagarde z.B. wie eine Säure wirken, die mich für den Augenblick völlig zersetzt. Oder ein Wort Nietzsches oder Goethes.

      36An dieser meiner Lieblingsbank führt kein Spazierweg vorüber, geschweige denn eine Straße, — nur ein schmaler Wiesenpfad von zwei Spannen Breite. Da kommt denn auch begreiflicherweise wenig Volks vorbei, — — Einsiedler, Sonderlinge!

      Ich sehe mich selbst, schreibend zur Nachtzeit — im Bett bei der Lampe, dies Büchelchen schreibend …

      Und all das bin Ich.

      Ich sehe.

      Ich bin wie eine Uhr, die sich jeden Tag von neuem richten muß, weil sie jeden Tag immer wieder von neuem nachgeht.

      Mein Traum 26./27. Nov. 08: Ich sehe etwas in der Luft wie etwa drei glänzende glasklare Äpfel an einem (unsichtbaren?) Zweige, sie bewegen sich leicht im Wind — und daran geht mir das Wesen alles Lebens auf. Ich denke an Böhme und seine Lampe. Nach jenem Vorgang — bewegtes All — erkläre ich mir, im Traum, das ganze Leben. Das Ende ist mir leider entschwunden, ich weiß nur, daß ich großer Klarheit genoß.

      Ich möchte sagen, daß ich immer noch im und vom Sonnenschein meiner Kindheit lebe.

      Wenn ich mir je ein Haus baue, so muß es einen Hof umschließen, in dessen Mitte ein riesiger Baum steht. Nichts ist für mich mehr Abbild der Welt und des Lebens als der Baum. Vor ihm würde ich täglich nachdenken, vor ihm und über ihn …

      37Über die äußere Technik zur Hervorbringung kontemplativer Zustände mich unterrichten!

      Mir den Sonntag Morgen als Posttag einrichten. Nur dann Privatkorrespondenz empfangen und beantworten. (Private Ordensregeln.)

      Wie wenig reeller Wert ist oft an einer ausgedehnten ‚guten Handlung‘. Da bin ich eben bei einem Begräbnis gewesen. Aber nichts von meiner ganzen Beteiligung an diesem actus war anders als so gut wie nur äußerlich, außer der ursprünglichen spontanen Regung beim Empfang der Todesnachricht: Du willst diesem Entschlafenen die letzte Ehre erweisen.

      Schließlich und endlich: was vermisse ich unter meinen Mitmenschen am meisten: Wirkliche, wirkliche Phantasie.

      Heut habe ich mich zum zweiten Mal an die Erweckung des Lazarus gemacht .. Was ich hier will, ist viel tiefer als ‚Kunst‘.

      Das ist es: Alle die andern beschäftigen sich mit ‚Gott‘. Ich wage zu sagen: Ich — bin — das, was wir Gott nennen — selbst. Wer das versteht, aber auch nur der, weiß, was ich meine, wenn ich von ‚meinem Ernste‘ spreche.

      Meine Wendung zum Dualismus (wenn ich es so brottrocken ausdrücken will) datiert nicht etwa vom August 1908, sie hatte sich mir schon lange vorher verraten. 38Ein äußeres Merkwort bedeutete für mich auf diesem Felde eine gelegentliche Auslassung Heinrich Frickes, etwa im Vorfrühling 1907, über sich, Goethes Farbenlehre und den Dualismus. Daß ein so tiefer Mensch überall Zweiheit sah, mit derselben Kraft, mit der ich überall Einheit fühlte, konnte ich nicht mehr vergessen. Aber ich kam doch auch noch auf ganz andern Wegen zu der Formulierung der Welt als Gottes ‚Du‘.

      Ich habe einmal in meinem Leben auf einen Stein gebissen. Seitdem bitte ich jedes Brot vorher: enthalte keinen Stein!

      An M. a Jetzt fangen wieder diese großen herrlichen Vormittage an, an deren spätem Ende ich, an allen Fibern zitternd, den Mittagstisch aufsuche, um unwillig und abwesend mein Essen beizunehmen, das mich langsam wieder dem Gesetz der Schwere unterwirft. Du kannst Dir keinen Begriff von diesem inneren Brennen und Verzehrtwerden machen, dessen ich oft kaum gewahr bin, so daß ich jeden Augenblick und bei jeder Berührung durch irgend etwas, einen Anblick, eine Zeitungsnachricht, eine Melodie, in Tränen ausbrechen möchte.

      Man wird mich einst in manchem meiner Sätze zu einem Eklektiker degradieren wollen, aber wenn ich auch in nichts Bisheriges überschritten haben sollte: Eklektiker war ich nie. Nie zeichnete ich etwas auf, wozu ich nicht durch meine ganze Natur und Entwickelung gekommen wäre und vieles fand ich und 39finde ich zu meinem Erstaunen wieder, was ich für mich allein zuvor besaß.

      Da lese ich soeben am 7. August 1908 von Schleiermacher: ‚Darum lebt das ganze Universum, das Göttliche, in jeder Individualität, als jede Individualität‘. Ist dies nicht mein Gedanke? und habe ich Schleiermacher je zuvor näher kennen gelernt?

       Inhaltsverzeichnis

      Der Mensch ist mein Fach und hier will ich bis zum Äußersten gehen. Wenn Ihr aber sagt: Dagegen wendet der Politiker dies ein und dagegen der Historiker dies und dagegen der Nationalökonom dies, so erwidere ich: Laßt auch sie ihr Fach bis zum Äußersten treiben. Ihr Fach ist der Mensch in irgend einer sozialen Form, das meine der Mensch an sich, der Mensch als inkommensurables Wesen.

      Bei hunderten mag es fesselnder und lohnender sein, den Bedürfnissen nachzuspüren, woraus ihre Werke entsprungen sind, als diesen Werken selber. Bei mir mag man sich mehr an das halten, was ich schreibe.

      Mein Hauptorgan ist das Auge. Alles geht bei mir durch das Auge ein.

      Ich weiß mich merkwürdig frei von jeder ‚romantischen Sehnsucht‘, ich fühle im Durchschnitt meines Wesens brüderlich zum Leben als etwas, dem ich nichts hinzuzufügen brauche und das mir nichts hinzuzufügen braucht. Darum vermag ich mich auch rein an ihm zu freuen, wo es Freude erweckt, darum wendet sich 40mein Schmerz über das Leid der Welt gleich bis in seinen Grund zurück.

      Kein Anders-Sein wollend, sondern das Sein in seinem Kern und Wesen anklagend und in Frage stellend.

      An Steiner

      Glück in medias res.

      Ich war sozusagen bis 4 Uhr morgens gegangen und glaubte kaum noch, daß es nun noch wesentlich heller für mich werden könnte. Ich sah überall das Licht Gottes hervordringen, aber ..

      Da zeigen Sie mir mit einem Male und gerade im rechten letzten Augenblick ein 5 Uhr, 6 Uhr, 7 Uhr — einen neuen Tag.

      Ich werde noch manches veröffentlichen müssen, was einer früheren Entwickelungsstufe als meiner jetzigen angehört, denn ich darf niemanden über den Weg betrügen, den ich gegangen bin.

      Niemanden loslassen. Keine Beziehung fallen lassen!

      Immer bewußter sich konzentrieren lernen. Alles Flatternde und Flackernde in mir überwinden. An jeden guten Gedanken, jede gute Empfindung einen Stein hängen, sie verankern. Damit zusammenhängend: Seßhaft werden, Tempobändigung, Tempobeherrschung.

      Meine Zahlen: 13/14/15/16/17/18/19. Mein Alter — 42?

      Ich widerrufe alles Harte und Böse, was ich je in meinen Worten oder Briefen gesagt habe.

      41O nur nicht immer wieder erlahmen, nur nicht immer wieder absinken. Züchte doch den Willen in dir, du ewiger Wanderer ohne Stab.

      Man soll mich als einen malen, der ohne Stab einen Berg erklimmt. Der Dämon seiner eigenen Schwäche hindert ihn, sich einen Stab zu bilden, — aber am Steigen selbst kann er ihn nicht hindern, wie oft er auch wie tot daliegen mag.

      Was ich heute tue, tue ich nicht um meinetwillen, sondern um meiner Liebe zum Menschen willen.

      Einem Menschen wie mir genügt es nicht, Ein Mal das Richtige zu erkennen.

      Ich möchte gern auch noch zu äußerem Wirken gelangen. Ich möchte mein Berlin als geistiges Staatskunstwerk zum Ziel machen.

      In alles und jedes einfließen lassen einen höheren Geist!

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