Kerstin Friedrich

Spielregeln für Game Changer


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– wenn er oder sie es will – eine eigene, persönliche Vision. Und das Unternehmen tut dann alles, um die Person darin zu unterstützen, diese zu erreichen.

      Vor einigen Jahren war ich in Ann Arbor, um von Ari Weinzweig die Kunst des Visioning zu erlernen. Ich war damals sehr beeindruckt von einer Küchenkraft aus dem Deli, die in ihrer Vision geschrieben hatte, dass sie Krankenschwester werden möchte. Das Unternehmen hat ihr nicht nur Mut gemacht, diese Vision Realität werden zu lassen, sondern hat ihre Schichtpläne dann so gelegt, dass sie auf die Abendschule gehen konnte. In unserem Workshop erzählte sie, dass sie gerade bei Zingerman’s gekündigt hatte und in drei Monaten im Krankenhaus von Ann Arbor ihre erste Stelle als Krankenschwester antreten würde. »Wer ist so bekloppt, gute Mitarbeiter zu ermutigen, das Unternehmen zu verlassen?«, wird sich jetzt manch einer fragen. Ganz einfach: Zingerman’s will ein attraktiver Arbeitgeber sein, ein Ort, an dem Menschen ihr volles Potenzial entwickeln können. Das ist etwas ganz anderes, als Menschen im Wortsinne einfach nur »Arbeit zu geben«, damit sie ihren Lebensunterhalt fristen können. Wenn der eine oder andere Mitarbeiter dabei entdeckt, dass seine Leidenschaft nicht darin besteht, großartiges Essen zu erzeugen, um dann etwas anderes zu tun, kann das nur im beiderseitigen Interesse sein: Der betreffende Mitarbeiter findet anderswo ein größeres Glück; und bei Zingerman’s ist man sicher, dass diejenigen, die bleiben, mit vollem Herzen dabei sind.

      Alle Tochterunternehmen der ZCOB sind entstanden, weil Mitarbeiter die Sehnsucht nach etwas anderem verspürten. Wenn dieses »andere« zu den strategischen Säulen »Great Food – Great Service – Great Finance« passt, dann wird sorgfältig geprüft, ob diese Idee umgesetzt werden kann. Der erste Ableger des Delis ist die 1992 gegründete Bäckerei Bakehouse. Seit der Eröffnung des Delis fuhr jeden Morgen ein Mitarbeiter eine Stunde ins nahe gelegene Detroit (und wieder eine Stunde zurück), um dort bei einem besonders guten Bäcker das Brot für die Sandwiches zu kaufen; das Brot der ortsansässigen Bäcker genügte den Ansprüchen nicht. Frank Carollo, ein Mitarbeiter der ersten Stunde, brachte die Idee auf, eine eigene Bäckerei zu gründen – vor allem, um dann endlich all die köstlichen Backwaren zu produzieren, von denen man glaubte, dass sie die Kunden in Ann Arbor begeistern würden. Nach langem Rechnen und Visionieren fiel dann die Entscheidung, die Bäckerei zu eröffnen. Ganz nach dem Motto »Das Beste oder nichts« ging Carollo (der sich als gelernter Ingenieur das Backen selbst beigebracht hatte und Brot liebte) für ein halbes Jahr nach Frankreich und Deutschland, um dort bei den besten Bäckern zu hospitieren und zu lernen. Nach seiner Rückkehr wurde dann das Bakehouse in einem überraschend langweiligen Gewerbepark am Plaza Drive am Rande von Ann Arbor eröffnet. Hier spielte sich dann das Gleiche ab wie im Deli: Die herausragende Qualität führte zu rasantem Umsatzwachstum. Beliefert werden heute nicht nur die Zingerman’s-Unternehmen, sondern Restaurants und Einzelhändler in der gesamten Umgebung. Allein die Verkaufsstelle im Gewerbepark, weit ab von traditioneller Laufkundschaft, macht nahezu 1 Million Dollar Umsatz pro Jahr. »Eigentlich« wollte man dort gar nichts verkaufen. Doch nach und nach klopften immer mehr Angestellte der umliegenden Unternehmen an die Tür, um Brot mitzunehmen. Die Mundpropaganda tat das Ihrige, sodass dann bald ein eigener kleiner Laden in dem Gebäude eröffnet wurde.

      Nach dem gleichen Muster wurden nach und nach die übrigen Unternehmen auf Initiative von Mitarbeitern ausgegründet: eine Kaffeerösterei mit Coffeeshop, ein traditionelles amerikanisches Diner (das Roadhouse), eine Molkerei, die Käse und Eiscreme produziert, ein koreanisches Restaurant (Miss Kim) und so weiter. Zingerman’s ist eine Brutstätte für Unternehmergeist und Exzellenz, und es zieht die besten und motiviertesten Leute an – genau das, wovon viele kleine und mittelständische Unternehmer träumen.

      Ein großer Teil des Zingerman’s-Erfolges geht auf Open-Book-Management in spielerischer Form zurück, so wie es ursprünglich bei SRC erfunden wurde. Ausnahmslos alle Mitarbeiter – auch die Aushilfen – bekommen Finanztraining. Jeder versteht das Geschäftsmodell, kennt die Kostenstrukturen und die Gewinnmargen. Alle Mitarbeiter werden, wenn sie es wollen, in die strategische Planung eingebunden und können an der Zukunft des Unternehmens mitwirken. Aus Mitarbeitern sind wirkliche Mitunternehmer geworden. Die dem zugrunde liegende Geisteshaltung kann man natürlich nicht erlernen, man kann sie höchstens in sich entdecken. Allein macht aber auch sie kein Unternehmen erfolgreich. Hinzu kommen Methoden, Prozesse, Prinzipien, die jedermann erlernen kann. Einige davon werden dir in diesem Buch noch begegnen.

       KAPITEL 4

       Systeme ändern durch Transparenz und Verbundenheit – die universelle Gewinnformel

       In fast allen Unternehmen agieren Führungskräfte wie Blindenführer: Ihre Mitarbeiter wissen weder, welche Ziele sie gemeinsam als Team erreichen sollen, noch wissen sie, wie nah sie diesen Zielen gekommen sind. Erfahre hier, welche Rolle Transparenz, Verbundenheit und Vertrauen spielen.

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       Veränderungen beim Militär

      Eines der beeindruckendsten Beispiele dafür, wie Veränderungen von systemischen Rahmenbedingungen zu dramatisch besseren Ergebnissen führen, ist die Geschichte von Stanley McChrystal. Der US-General tat etwas Unvorstellbares: Er schaffte im Kampfeinsatz die hierarchische Befehlskette ab und befähigte seine Eliteeinheiten, die Special-Ops-Truppen, im Irakkrieg eigene Entscheidungen zu treffen. Er tat das aus schierer Not, denn die Gegner, die Al-Qaida-Gruppen, waren flexibel, anpassungsfähig und schnell, weil sie keine Befehle von oben brauchten, keine Meetings abhielten und über IT bestens vernetzt waren. »Es war unmöglich, sie zu schlagen«, erzählt McChrystal in einem Interview in brand eins im Januar 2017. »Wenn wir unseren Top-Down-Prozess anwendeten, waren wir immer zu langsam. Wir hatten zwar gute Informationen, aber bis sie durch die Befehlskette gewandert waren, waren sie veraltet und nicht mehr brauchbar. Wir mussten irgendwann die sehr schmerzliche und beängstigende Entscheidung treffen, jeden mit jedem zu vernetzen, um wirklich auf breiter Front die Informationen zu teilen, die sonst der obersten Führungsebene vorbehalten waren. Statt die Infos nach oben und die Befehle nach unten zu schicken, streuten wir Wissen in die Breite. Plötzlich konnten alle Soldaten unter meinem Kommando den vollen Kontext verstehen.«11 Diese – für militärische Verhältnisse – brutale Änderung der Spielregeln führte unmittelbar zu besseren Ergebnissen; aus durchschnittlich 18 Einsätzen im Monat wurden 300. Die Erfolgsquote stieg: Die Leute an der Front hatten bessere Informationen und konnten bessere Entscheidungen treffen, und sie fühlten mehr Verantwortung, weil es ihre Entscheidungen waren. Die einzelnen Teams verband McChrystal, indem das Wissen in alle Richtungen geteilt wurde. An die Stelle der Hierarchie trat ein Netzwerk, das er auf den Namen »Team von Teams« taufte.

      McChrystal musste dafür etwas im Militär Unerhörtes tun: so viele Informationen teilen wie möglich. Erkenntnisse über den Feind unterlagen bis dato strikter Geheimhaltung. Solche Informationen wurden an die Spitze weitergeleitet, analysiert, ausgewertet und mündeten dann in entsprechenden Einsatzbefehlen. In der neuen Struktur wurden diese Informationen mit allen geteilt, und die Spezialeinheiten konnten weitgehend autonom ihre eigenen Schlüsse ziehen und Einsätze planen. Das Teilen der Informationen führte zu einem »geteilten Bewusstsein«. McChrystal beschreibt auch, wie schwer es ihm fiel, Macht und Kontrolle abzugeben und zu teilen. Es sei zwar schön gewesen, dass er nicht mehr mitten in der Nacht geweckt wurde, um einen tödlichen Einsatzbefehl zu beurteilen und zu genehmigen – aber dafür fehlte auch das Gefühl der Unentbehrlichkeit und Wichtigkeit. Er schreibt über die Unsicherheit und die damit verbundenen Ängste. Der Strategiewechsel sei vergleichbar gewesen mit der Aufgabe, ein Flugzeug in der Luft umzubauen, unter der erschwerten Bedingung, dass niemand Erfahrung damit hatte. Das Einzige, das sie hatten, war eine Blaupause: eine Organisation, die noch beweglicher, vernetzter und schlagkräftiger war als die Zellen von Al-Qaida-Anführer Abu Musab az-Zarqawi. Das bedeutete insofern einen kompletten Paradigmenwechsel, als das US-Militär zuvor ganz nach den Prinzipien, nach denen Frederick Taylor die Industrie organisiert hatte, auf maximale Effizienz getrimmt worden war. Was die Truppen im neuen