das macht Hegel aber nicht. Er spricht nicht von unterschiedlichen philosophischen Positionen beziehungsweise einem bestimmten Typ von philosophischen Positionen. Vielmehr spricht er – im Sinne einer Reflexion darauf, was es heißt, mit einer philosophischen Reflexion anzufangen – von einem oftmals selbstverständlich gesetzten Ausgangspunkt. Viele Philosophien gehen demnach davon aus, dass die erste Aufgabe (der theoretischen Philosophie) in einer Analyse des Erkennens besteht. Dieser Ausgangspunkt lässt sich knapper fassen, wenn man sagt, dass Philosophie einer gängigen Auffassung zufolge Erkenntniskritik leisten soll. Demnach gibt es auf der einen Seite das Erkennen (die menschlichen Erkenntnisvermögen) sowie auf der anderen Seite das (von diesen Vermögen) Erkannte, und es muss zuerst geklärt werden, welche Mittel das Erkennen zur Verfügung hat, um Zugang zu dem zu bekommen, was erkannt werden soll. Das, was erkannt werden soll, ist die unabhängig von erkennenden Wesen bestehende Realität. Hegel spricht hier knapp von dem Absoluten. Absolut ist die Realität, weil sie losgelöst von uns als erkennenden Wesen Bestand hat. Das Erkennen – also die Kräfte in uns Subjekten, die uns erkenntnisfähig machen – wird, wie Hegel sagt, immer wieder als ein Werkzeug oder ein Mittel (beziehungsweise Medium) verstanden, das den Zugang zur Realität ermöglichen soll. Die natürliche Vorstellung besagt also, dass die Realität auf der einen Seite steht und das Subjekt mit seinen Erkenntniskräften auf der anderen und dass es zuerst zu klären gilt, in welcher Weise die Erkenntniskräfte uns Zugang zur Realität verschaffen.
Was kritisiert Hegel nun an dieser Vorstellung? Er sagt es deutlich im zweiten Absatz. Seine Kritik besteht erst einmal nicht darin, dass die Vorstellung falsch ist (auch wenn er am Ende zweifelsohne zu dieser Auffassung kommt). Vielmehr besagt sie in erster Linie, dass unbegründete Voraussetzungen im Spiel sind. Er formuliert folgendermaßen:
Sie [die Furcht zu irren, wenn man nicht zuerst die Möglichkeiten des Erkennens untersucht] setzt nämlich Vorstellungen von dem Erkennen als einem Werkzeuge und Medium, auch einen Unterschied unserer selbst von diesem Erkennen voraus; vorzüglich aber dies, dass das Absolute auf einer Seite stehe, und das Erkennen auf der andern Seite für sich und getrennt von dem Absoluten doch etwas Reelles, […]. (72 f./69 f.)
Wer denkt, dass die Philosophie mit Erkenntniskritik zu beginnen habe, macht also die Voraussetzung, dass es zwei Seiten gibt: die Seite des für sich bestehenden Objekts und die Seite des erkennenden Subjekts. Das Subjekt ist getrennt vom Objekt: Diese These wird von erkenntniskritischen Überlegungen vorausgesetzt. Aber wie ist diese These begründet? Woher weiß eine erkenntniskritische Philosophie, dass diese These gilt? Sie weiß es nicht – sie muss es unhinterfragt voraussetzen. Hegel spricht in diesem Sinn von einer »leere[n] Erscheinung des Wissens« (74/71). Die Erscheinung des Wissens ist deshalb leer, weil zentrale Begriffe wie die des Objekts oder des Subjekts nicht bestimmt worden sind, sondern einfach unbestimmt an den Anfang gesetzt werden. Damit führt sich das Projekt der Erkenntniskritik aber selbst ad absurdum. Es ist keine kritische Reflexion über die Möglichkeiten des Erkennens, sondern ein Sammelsurium unkritischer Behauptungen darüber, wie das Verhältnis von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt beschaffen ist. Hegel beginnt damit in diesem Sinn seine Überlegungen mit einer Kritik des Projekts der Erkenntniskritik.
Es geht ihm also nicht primär darum, bestimmte Philosophien zu kritisieren. Seine Kritik richtet sich weder primär gegen Kant noch gegen Fichte oder – was man auch immer wieder vermutet hat – gegen Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819), einen Zeitgenossen, der eine spiritualistische philosophische Position in Anlehnung an Spinoza vertrat. Zwar ist es sicher richtig, dass alle diese Philosophen erkenntniskritische Ansätze verfolgen (und insofern auch von Hegels Kritik der Erkenntniskritik getroffen werden). Sie teilen dies mit nahezu allen anderen Philosophien, die in der Neuzeit und auch bereits in der Antike formuliert worden sind (und auch, nebenbei bemerkt, mit einer großen Zahl der Philosophien, deren Zeitgenossinnen und Zeitgenossen wir sind). Hegel geht es jedoch um den erkenntniskritischen Ansatz als solchen, den er zu überwinden trachtet.
Somit haben wir eine erste Idee davon gewonnen, wie die einleitende Kritik Hegels zu verstehen ist. Sie hat, von Anfang an, eine positive Seite, die folgendermaßen artikuliert werden kann: Hegel will nicht mit unbegründeten Voraussetzungen beginnen. Er erläutert dies auch mit Blick auf den Gehalt der zentralen Begriffe (wie derjenigen von Subjekt, Objekt, dem unabhängigen Bestehen des Objekts oder dem Erkennen im Unterschied zum Erkannten): Er will diesen Gehalt, wie er sagt, »geben« (74/71), das heißt: er will ihn entwickeln und nicht voraussetzen.
Hegels Kritik des Projekts der Erkenntniskritik macht selbstverständlich noch nicht klar, wie er selbst sich den Anfang des Philosophierens vorstellt. Dieser Frage wendet er sich im vierten Absatz der Einleitung zu. Gerade hier ist der Text recht kurzatmig und erklärt nicht allzu viel. Nachdem Hegel festgehalten hat, dass unbegründete Voraussetzungen genau das sind, was durch Wissenschaft und damit durch Philosophie überwunden werden soll, heißt es: »Aber die Wissenschaft darin, dass sie auftritt, ist sie selbst eine Erscheinung; ihr Auftreten ist noch nicht sie in ihrer Wahrheit ausgeführt und ausgebreitet.« (74/71) Es ist entscheidend zu klären, was Hegel hier sagen will. Ich schlage vor, ihn folgendermaßen zu verstehen: Wissenschaft ist immer mit Wissensansprüchen verbunden. Wenn diese erhoben werden, ist aber noch nicht klar, ob sie auch tatsächlich eingelöst werden. Das ist zunächst immer eine offene Frage. In diesem Sinne ist Wissenschaft zuerst einmal eine Erscheinung: ein Erheben von Wissensansprüchen, die in der Folge geprüft werden müssen.
Aus diesem Grund stellt Hegel auch nicht zu Beginn ein anderes Projekt gegen das Projekt der Erkenntniskritik. Er sagt in Bezug auf ein solches mögliches Vorgehen in aller Deutlichkeit: »ein trockenes Versichern gilt aber gerade soviel als ein anderes.« (74/71) Wissenschaft kann sich so nicht damit zufriedengeben, dass sie eine bestimmte Position bezieht. Genau darin ist sie eine bloße Erscheinung, wie Hegel sagt, bloß ein trockenes Versichern – oder anders gesagt: bloß ein erhobener Wissensanspruch. Wissensansprüche aber müssen eingelöst werden. Sie müssen sich anderen gegenüber bewähren. Wissenschaft ist eine Praxis, in der Wissensansprüche nicht einfach für sich stehen, sondern zu überprüfen sind. Eine entsprechende Überprüfung aber kann es nur dann geben, wenn das Wissen als Wissen thematisiert werden kann. Nur dann kann sich zeigen, ob erhobene Wissensansprüche auch eingelöst werden. Wissenschaft ist, kurz gesagt, notwendig mit einem Wissen vom Wissen verbunden. Wissenschaft ist nicht nur das Projekt, Wissen zu erlangen, sondern auch das Projekt, Wissen als Wissen zu thematisieren. In der Wissenschaft geht es um ein Wissen vom Wissen, um ein höherstufiges Wissen – ein Wissen, das sich als Wissen weiß. Drückt man es in dieser Weise aus, ist leicht zu sehen, dass Hegel nicht einfach allgemein von Wissenschaft spricht, sondern Wissenschaft in spezifischer Weise versteht: als Philosophie. Die Ausführungen Hegels zur Wissenschaft handeln von Philosophie, präsentieren also Philosophie als Wissenschaft par excellence.
Wissenschaft in diesem Sinn beginnt damit, dass von Positionen Wissensansprüche erhoben werden und dabei ein bestimmtes Verständnis davon vertreten wird, was Wissen ist. Solche Positionen werden immer in konkreter Weise auf etwas bezogen. Sie sind mit spezifischen historischen Umständen verbunden, mit körperlichen Aktivitäten und Interaktionen von Subjekten innerhalb von Gemeinschaften. Wissenschaft ist dabei, wie erläutert, insofern eine Erscheinung, als die erhobenen Wissensansprüche immer einem kritischen Blick unterworfen werden müssen, was in einem Prozess des immer neuen Überprüfens von Wissensansprüchen geschieht. So kann man die erste positive Angabe verstehen, die Hegel macht und der zufolge »diese Darstellung nur das erscheinende Wissen zum Gegenstande hat« (75/72). Die PhG ist also eine Darstellung davon, wie unterschiedliche Ansprüche, ein Wissen vom Wissen zu haben, an sich selbst scheitern und inwiefern daraus Rückschlüsse für ein angemessenes Wissen vom Wissen gezogen werden können.
Damit gewinnen wir zugleich ein erstes Verständnis der wiederkehrenden Rede von einem Weg: Es geht Hegel darum, ein Wissen, das sich als Wissen weiß, in angemessener Weise zu entfalten. Dies soll dadurch geleistet werden, dass unterschiedliche Varianten des Wissens vom Wissen als einseitig verständlich gemacht werden, also als solche, die an ihren Wissensansprüchen scheitern. Dadurch sollen sich zunehmend Konturen eines angemessenen Wissens vom Wissen ergeben. Heidegger schreibt sehr treffend, dass der Weg, den Hegel sich vornimmt, nicht als eine Reisebeschreibung durch das »Museum der Gestalten des Bewußtseins«14 zu verstehen