Tage. Manchmal ist er bloß auf der Durchreise.
Das erste Mal kam er kurz nach dem Krieg. Da waren wir gerade dabei, den Fischfang in Neufundland wiederaufzunehmen, den wir fünf Jahre lang aufgegeben hatten.
Er wollte die Sache angeblich prüfen und Geld in die Geschäfte stecken, die sich abzeichneten.
Er behauptete, Norweger zu sein. Mit Vornamen heißt er Olaf. Die Heringsfischer, die manchmal bis nach Norwegen kommen, sagen, dass dort oben viele so heißen.
Trotzdem gab es Gerüchte, dass er in Wahrheit ein deutscher Spion wäre.
Darum haben wir, als er heiratete, seine Frau geschnitten.
Dann haben wir erfahren, dass er Seemann ist und als Zweiter Offizier an Bord eines deutschen Handelsschiffs fährt und deshalb so selten hier ist.
Schließlich haben wir das Interesse an ihm verloren, aber die Leute hier sind eben immer misstrauisch …«
»Sie sagten, dass er Kinder hat?«
»Zwei. Ein Mädchen von drei Jahren und ein Baby, ein paar Monate alt.«
Maigret nahm das Bild aus dem Album und ließ sich den Weg zur Villa beschreiben. Es war noch zu früh für einen Besuch.
Zwei Stunden wartete er in einem Café am Hafen und hörte den Seeleuten zu, die sich über die auf Hochtouren laufende Heringsfischerei unterhielten. Fünf schwarze Kutter lagen am Quai. Fass um Fass wurden Fische entladen, und trotz des Sturms hing der Gestank überall.
Auf dem Weg zur Villa ging er den verwaisten Deich entlang und umrundete das geschlossene Kasino, an dessen Wänden noch die Plakate vom letzten Sommer hingen.
Schließlich stieg er einen steilen Pfad nach oben. Da und dort sah er den Zaun einer Villa.
Diejenige, die er suchte, war aus rotem Backstein, von mittlerer Größe und durchaus ansehnlich. Man sah, dass der Garten mit den weißen Kieswegen in der schönen Jahreszeit sorgfältig gepflegt wurde. Von den Fenstern aus musste man einen weiten Blick haben.
Er läutete. Eine Dänische Dogge näherte sich, um ihn, ohne Gebell, doch mit umso grimmigerer Miene, durch das Gitter zu beschnüffeln. Beim zweiten Läuten erschien eine Haushälterin, die den Hund in einen Zwinger sperrte und dann fragte:
»Was wollen Sie?«
Sie sprach den örtlichen Dialekt.
»Ich würde gern mit Monsieur Swaan sprechen, wenn es möglich ist.«
Sie schien zu zögern.
»Ich weiß nicht, ob Monsieur gerade da ist … Ich werde fragen …«
Sie hatte das Gittertor nicht geöffnet. Es goss immer noch in Strömen. Maigret war völlig durchnässt.
Er sah die Haushälterin die Treppe hochgehen und im Haus verschwinden. Dann bewegte sich ein Vorhang an einem der Fenster. Etwas später kam die Frau zurück.
»Monsieur wird erst in ein paar Wochen wieder da sein. Er ist in Bremen …«
»In diesem Fall möchte ich gern mit Madame Swaan sprechen.«
Sie zögerte erneut, öffnete aber schließlich das Tor.
»Madame ist noch nicht angekleidet. Sie müssen warten.«
Er wurde in ein blitzblankes Wohnzimmer mit weißen Gardinen an den Fenstern und gebohnertem Parkett geführt. Das Wasser tropfte ihm von den Kleidern.
Die Einrichtung bestand aus neuen Möbeln, wie man sie in jedem kleinbürgerlichen Haushalt vorfindet. Sie waren von guter Qualität und in einem Stil, der um 1900 als modern gegolten hätte.
Helle Eiche. Blumen in einer kunstgewerblichen Steingutvase in der Mitte des Tischs. Bestickte Zierdeckchen.
Auf einem runden kleinen Tisch allerdings ein prachtvoller silberner Samowar mit Gravuren, der allein mehr wert war als das ganze übrige Mobiliar.
Irgendwo im ersten Stock gab es ein Geräusch. Zudem weinte hinter einer Wand im Erdgeschoss ein Baby, und eine Stimme flüsterte etwas, leise und gleichförmig, um es zu beruhigen.
Schließlich gedämpfte Schritte im Korridor. Die Tür öffnete sich. Und Kommissar Maigret sah sich einer jungen Frau gegenüber, die sich eilig angezogen hatte, um ihn zu empfangen.
Sie war mittelgroß, eher füllig als mager und hatte ein hübsches, ernstes Gesicht, auf dem sich in diesem Moment eine vage Beunruhigung abzeichnete.
Dennoch lächelte sie und fragte:
»Wollen Sie nicht Platz nehmen?«
Von Maigrets Mantel, von seiner Hose, seinen Schuhen rannen Wasserfäden und bildeten kleine Pfützen auf dem gebohnerten Boden.
So konnte er sich nicht auf die weichen grünen Plüschsessel des Zimmers setzen.
»Madame Swaan, nicht wahr?«
»Ja, Monsieur …«
Sie sah ihn fragend an.
»Entschuldigen Sie die Störung … Es ist eine reine Formsache … Ich bin von der Fremdenpolizei. Wir versuchen im Moment alle Ausländer zu erfassen …«
Sie sagte nichts. Beunruhigt wirkte sie nicht mehr, gelassen aber auch nicht.
»Monsieur Swaan ist Schwede, oder nicht?«
»Pardon, Norweger … Aber für einen Franzosen macht das keinen Unterschied … Ich selbst habe am Anfang …«
»Er ist Marineoffizier?«
»Er ist Zweiter Offizier, und er fährt auf der Seeteufel, aus Bremen …«
»Stimmt … Er arbeitet also für eine deutsche Gesellschaft.«
Sie errötete ein wenig.
»Der Reeder ist Deutscher, ja … Wenigstens auf dem Papier …«
»Was heißt das?«
»Ich glaube, das brauche ich Ihnen nicht zu verheimlichen. Sie wissen bestimmt, dass die Handelsmarine seit dem Krieg in der Krise ist … Selbst hier wird man Ihnen Seekapitäne nennen, die aus Mangel an geeigneten Posten gezwungen sind, als Zweite oder Dritte Offiziere anzuheuern … Andere arbeiten auf Fischkuttern vor Neufundland und auf der Nordsee.«
Sie sprach mit einer gewissen Hast, doch mit leiser, gleichmäßiger Stimme.
»Mein Mann wollte keinen Vertrag für den Pazifik unterzeichnen, wo es mehr zu tun gibt, denn dann hätte er nur alle zwei Jahre in Europa sein können. Kurz nach unserer Heirat haben Amerikaner die Seeteufel ausgerüstet, die unter deutscher Flagge fährt … Und Olaf ist extra nach Fécamp gekommen, weil er wissen wollte, ob hier nicht noch andere Schoner zu verkaufen wären.
Sie verstehen doch … Es handelte sich um Alkoholschmuggel in die Vereinigten Staaten.
Große Gesellschaften wurden gegründet, mit amerikanischen Kapitänen. Mit Sitz in Frankreich, in Holland oder in Deutschland.
Eigentlich arbeitet mein Mann für eine dieser Gesellschaften. Die Seeteufel verkehrt auf der sogenannten Rum-Straße.
Er hat also nichts mit Deutschland zu tun.«
»Ist er jetzt gerade unterwegs?«, fragte Maigret, ohne den Blick von dem hübschen Gesicht zu wenden, das etwas Offenherziges und bisweilen sogar Rührendes hatte.
»Ich glaube nicht. Sie müssen wissen, dass sein Schiff nicht so regelmäßig fährt wie Passagierschiffe. Aber ich versuche immer herauszufinden, wo die Seeteufel gerade ist. Jetzt sollte sie in Bremen sein, oder jeden Augenblick dort einlaufen …«
»Waren Sie schon mal in Norwegen?«
»Noch nie! Ich habe die Normandie eigentlich noch nie verlassen. Nur zwei, drei Mal bin ich kurz in Paris gewesen.«
»Zusammen mit Ihrem Mann?«
»Ja …