Nayoma Viktoria de Hean

30 Minuten Gewaltfreie Kommunikation


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der Fokus dabei auf dem, worum es im Kern geht: auf den Bedürfnissen. Da das Bedürfnis nach Qualitäten wie Struktur, Klarheit, Freiheit oder Austausch zum Erfahrungsschatz eines jeden Menschen gehört, bringt der empathische Fokus darauf die gemeinsame Menschlichkeit ins Bewusstsein. Das stabilisiert die Beziehungsebene und es entsteht eine tragfähige Verständigungsgrundlage. Dann können unterschiedliche Meinungen auf der Sachebene ehrlich und wertschätzend verhandelt werden.

      Der Sach- und der Beziehungsaspekt der Kommunikation werden durch den empathischen Fokus auf die aktuelle menschliche Erfahrung in Balance gehalten.

      1.2 Gewaltfrei – Was heißt das?

      Warum reagieren manche Menschen unter Druck aggressiv und gewaltvoll, andere dagegen mitfühlend und verständnisvoll? Was befähigt diese Menschen, in Konflikten verständnisvoll und mitfühlend zu bleiben? Diese Fragen beschäftigten Marshall B. Rosenberg, seit er in seiner Jugend als Jude im schwarzen Ghetto von Detroit sowohl Hass und mörderische Gewalt als auch große Güte und Nächstenliebe erlebte. Er erkannte, dass es eine innere Haltung und bestimmte Sprachmuster gibt, die Verständnis und Mitgefühl fördern und zu einem anderen Umgang mit Macht führen. Die Gewaltfreie Kommunikation dient dazu, diese Haltung und Sprachmuster zu entwickeln und zu stärken.

      „Gewaltfrei? Ich schlage doch niemanden!“

      Der Begriff der „Gewaltfreien Kommunikation“ lässt manche Menschen an klassische Gewaltprävention denken. Hinter diesem Namen steckt jedoch ein umfassenderes Verständnis von Gewalt und ihren Wurzeln: Gewalt beginnt im Denken. Sie beginnt mit dem Gedanken, etwas, jemand oder ich muss anders sein oder sollte meinen Vorstellungen entsprechen, und sie setzt sich fort in der Wahl der Mittel, um diese Idee durchzusetzen. In diesem Sinne können wir alles als Gewalt bezeichnen, was mit Druck, Zwang, Manipulation oder Festschreibungen arbeitet – von Lob und Tadel bis zu Drohungen, Bestrafungen und Zwangsmaßnahmen. Auch hinter verallgemeinernden Urteilen und Bewertungen steckt letztlich der Versuch, Menschen durch moralischen Druck den eigenen Vorstellungen entsprechend zu beeinflussen. Da es noch nicht lange her ist, dass sogar der Einsatz von körperlicher Gewalt als akzeptable Erziehungsmaßnahme galt, sind die meisten Menschen mit einem Denken aufgewachsen, welches solche subtilen Formen von Gewalt für normal hält.

      Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit

      Die Gewaltfreie Kommunikation hilft, den Wurzeln der Gewalt mit dem Aikido-Prinzip entgegenzuwirken: Die Schlagkraft eines gewaltvollen Gedankens oder Satzes wird mit Präsenz und Mitgefühl aufgefangen und durch die bewusste Ausrichtung der Aufmerksamkeit so umgewandelt, dass sie nicht nur keinen Schaden anrichtet, sondern allen Beteiligten weiterhilft. Wenn wir wach und präsent wahrnehmen, was gerade passiert, können wir uns entscheiden, nicht in automatisierte Abwehrreaktionen zu verfallen, sondern mit Herz und Verstand nach einem Weg zu suchen, der für alle Beteiligten funktionieren kann. Wenn wir uns einander wohlwollend zuwenden und uns empathisch für uns selbst und die anderen öffnen, entsteht eine Beziehung, die von Aufrichtigkeit und Mitgefühl geprägt ist.

      Prozessorientiert sprechen

      Um diese innere Ausrichtung sprachlich umzusetzen, ist es hilfreich, auf statische Sprache zu verzichten und uns bewusst zu machen, dass sich alles verändert und es immer mehrere Perspektiven gibt. Statisches Denken und statische Sprache fördern Gewalt, indem sie Menschen und Dinge mit Kategorien wie richtig/falsch, normal/anormal, dumm/klug bewerten und festschreiben. Wer so denkt, maßt sich Objektivität an und presst die Vielschichtigkeit eines Menschen in eine enge Schablone. Das löst beim Gegenüber eher Widerstand aus.

      In der Gewaltfreien Kommunikation bevorzugen wir daher eine situationsbezogene, prozessorientierte Sprache (z. B. statt: „Er ist dumm.“ → „Es ist ihm nach drei Tagen Schulung nicht gelungen, das Programm zu starten.“). Sie berücksichtigt, dass sich Situationen und Menschen ständig verändern und verschiedene Perspektiven möglich sind. (Wenn sich z. B. der „dumme“ Mitarbeiter damit stressige Aufgaben erspart, kann das auf Kollegen durchaus „schlau“ wirken.)

      Jeder Mensch ist potenziell machtvoll

      Auch das eigene Verständnis von Macht trägt über Tonfall, Körpersprache und Wortwahl erheblich dazu bei, ob Kommunikation eher aggressiv oder vertrauensbildend wirkt. Macht bedeutet ursprünglich Fähigkeit, Können, Vermögen, bezeichnet also Potenzialität. Aus Sicht der Gewaltfreien Kommunikation können wir Macht definieren als die Fähigkeit, äußere und innere Ressourcen zu mobilisieren, um Bedürfnisse zu erfüllen (Kashtan, 2013, S. 173). Zu äußeren Ressourcen gehören u. a. Geld, Position und Einfluss; innere Ressourcen sind Qualitäten wie Wissen und Empathiefähigkeit. In diesem Sinne ist klar, dass jeder Mensch potenziell machtvoll ist, wenn auch in verschiedenen Lebensbereichen in unterschiedlicher Art und Intensität. Jeder kann sich fragen: Übernehme ich Verantwortung für meine (potenzielle) Macht? Und wie setze ich meine Macht ein? Nutze ich meine Macht für ein einvernehmliches Miteinander, indem ich die Bedürfnisse aller Beteiligten miteinbeziehe?

      Gewalt beginnt im Denken. Umdenken erfordert Bewusstheit. Eine Haltung wohlwollender, empathischer Präsenz und eine prozessorientierte Ausdrucksweise unterstützen einen Umgang mit Macht, der Verständnis und Mitgefühl stärkt.

      1.3 Ein positives Menschenbild

      Die Gewaltfreie Kommunikation beruht auf einem positiven, ganzheitlichen Menschenbild. Wesentliche Elemente sind:

      • Positive Motivation durch Bedürfnisse

      • Gleichwertigkeit der Bedürfnisse

      • Selbstverantwortung für unser Denken und Handeln

      • Selbstkompetenz für unser inneres Erleben

      • Natürliche Gemeinwohlorientierung

      Positive Motivation

      Alles menschliche Verhalten ist durch Bedürfnisse motiviert. Jeder Mensch tut in jedem Augenblick in Bezug auf seine Bedürfnislage „das Beste“, was ihm gerade möglich ist. Manchmal merken wir jedoch im Nachhinein, dass wir wichtige Bedürfnisse zugunsten anderer vernachlässigt haben.

      Gleichwertigkeit

      Zu den großen kulturellen Errungenschaften unserer modernen Zivilisation gehört die Erkenntnis, dass alles menschliche Leben wertvoll und gleichwertig ist. Oft leben wir jedoch nach wie vor nach dem Motto: „Ich/Wir oder die anderen.“ Wir meinen, wir müssten uns entscheiden, entweder für die eigenen Ziele und Bedürfnisse zu sorgen oder uns hilfsbereit den Bedürfnissen der anderen zuzuwenden. Dieses Spannungsfeld ist letztlich ein Ausdruck des menschlichen Grunddilemmas zwischen Entwicklung und individueller Freiheit einerseits und Sicherheit und Verbundenheit andererseits.

      Der Prozess der Gewaltfreien Kommunikation, in dem die eigenen Bedürfnisse genauso wichtig genommen werden wie die der anderen, kann bei der Lösung dieses Dilemmas einen hilfreichen Beitrag leisten. Wenn die Bedürfnisse beider Seiten transparent und empathisch kommuniziert werden, entstehen Verständnis und Mitgefühl und es kommt leichter zu Lösungen, in denen Freiheit und Sicherheit, Selbstausdruck und Verbindung berücksichtigt werden.

      Selbstverantwortung

      Wir können nur für das Verantwortung übernehmen, worauf wir Einfluss haben, z. B. ...

      • für unser Denken, unsere Ziele und Absichten,

      • für den Umgang mit unseren Gefühlen und Bedürfnissen,

      • für unser Sprechen und Handeln,

      • für unsere Reaktion auf die Reaktion anderer.

      Wir sind jedoch nicht verantwortlich für die Reaktion der anderen, denn diese liegt nicht in unserer Macht.

      Beispiel: Herr K. möchte einer Mitarbeiterin kündigen.