weiß. Der eine oder andere Personaler mag mich vielleicht jetzt schon nicht mehr. Doch es gibt ihn leider nicht, den diagnostischen Lebenslauf. Es gibt ihn nicht, den umfassenden Leadership-Studiengang. Und selbst wenn es ihn gäbe, würde er angehende Führungskräfte wohl nie qualifizieren können für das, was wir in unseren Unternehmen täglich erleben. Führung ist Leben, und Leben kann man niemandem beibringen.
Oder doch? Kinder lernen durch Vorbilder alles, was sie zum Leben brauchen. Essen, laufen, sogar wie man schlechte Laune zum Ausdruck bringt. Warum Schreien sich lohnen kann und warum man demjenigen schöne Augen machen sollte, der Zugang zum Süßigkeiten-Reservoir hat. Solche Dinge lernen unsere Kinder von uns – und noch ganz andere.
Wenn wir einen guten Leader schon nicht an der Nasenspitze erkennen können – dann vielleicht wenigstens einen schlechten? Wie verhindert man, dass man versehentlich einen Adolf Hitler an die Spitze eines Unternehmens, einer Abteilung oder eines Teams setzt? Und wenn man doch die falsche Person auf den Führungsposten gesetzt hat – merkt man das wenigstens im Nachhinein? Theoretisch ja, praktisch aber oft nein. Die fiktive Präsidentenwahl zum Einstieg hat uns etwas vor Augen geführt, das mich im Unternehmensalltag schon einige Male teuer zu stehen gekommen ist, monetär und emotional: Die gefährlichen unter den Alphatieren sind sehr gut im Verkleiden. Und nicht nur sie. Auch die harmloseren Vertreter, die nicht gleich die Welt anzünden, sondern „nur“ dem Unternehmen schaden. Und auch die, die es einfach nicht besser wissen. Letztere bilden vermutlich die größte Gruppe unter jenen, die wir nicht als gute Leader einstufen können. Das ist aber auch eine gute Nachricht: Die meisten schlechten Leader sind nicht freiwillig schlechte Leader. Sie wissen nur nicht, wie es anders geht – weil es ihnen niemand gezeigt hat. Sie haben gelernt, dass man demjenigen schöne Augen machen sollte, der den Schlüssel zur Schatztruhe hütet, und dem folgen sie dann auf Gedeih und Verderb. Genau hier liegt der Schlüssel. Nicht der zur Schatztruhe, sondern zur Antwort auf die Frage, woran man schlechte Leader erkennt. Alle schlechten Führungskräfte, die gefährlichen und die harmlosen, haben eines gemeinsam: Sie haben es nicht so mit der Freiheit. Sie funktionieren am besten in der Abhängigkeit. Was gute Leader stärkt und Führung erst ihren tieferen Sinn gibt, ist für sie am schwersten zu ertragen.
GESTATTEN: COMO
Welcome to Monkey Business, wo Freiheit ein Schimpfwort ist. Die Führungskräfte, die ich meine, gibt es in jedem Unternehmen. Auf allen Ebenen sind sie anzutreffen. Von ganz unten in der Hierarchie bis hinauf in den Vorstand. Das sind die Führungskräfte, die sich pudelwohl fühlen im Zwangskorsett der Abhängigkeiten. Sie tragen den richtigen Anzug. Sie hangeln sich mehr oder weniger elegant die Karriereleiter hoch. Sie küssen im Vorbeigehen die richtigen Hintern. Sie scheinen immer den richtigen Riecher zu haben, um es noch einen Schritt weiter nach oben zu bringen. Aber eigentlich ist alles, was sie tun und sagen, irrelevant.
Diese Spezies hat einen Namen. Ich nenne sie Corporate Monkeys. Kurz: COMOs. Und was sie tun, das nennen sie Führung. Sie jagen alle der gleichen Kokosnuss hinterher. Und diese Kokosnuss, die nennen sie dann auch noch Erfolg. Corporate Monkeys machen Führung durchschnittlich. Und, was noch viel wichtiger ist:
Dieser Spezies fehlt das, was Führung erst ihren Sinn gibt: der Wille zur Freiheit. Ich bin mir ganz sicher: Ihnen gehen die Corporate Monkeys genauso auf die Nerven wie mir. Auch Sie wollen anders führen und anders geführt werden, als die COMOs es Ihnen vorleben. Sie wollen auch anders erfolgreich sein – wirklich erfolgreich sein für Mitarbeiter, für Ihre Kunden, für Ihr Unternehmen. Am Ende auch für sich selbst. Davon bin ich überzeugt, denn da geht es mir nicht anders als Ihnen: Auch ich habe oft unter schlechter Führung gelitten, und auch ich habe schlecht geführt.
Ganz recht: Auch ich war mehrfach kurz davor, zum Corporate Monkey zu mutieren. Vielleicht habe ich die Grenze sogar ein paarmal überschritten. Ganz bestimmt habe ich das eine oder andere Mal die falsche Entscheidung getroffen. Und damit nähern wir uns des Pudels Kern, denn das ist das Spielfeld der Führung: Führen heißt entscheiden.
KEINE ENTSCHEIDUNGSFREIHEIT, NIRGENDS
Kennen Sie das Dilemma der Alphatiere? Sie wollen alles entscheiden und müssen dann eben auch jede Entscheidung treffen, die sie an sich gerissen haben. Und kennen Sie das Dilemma der dressierten Alphatiere? Sie wollen alles entscheiden, dürfen aber nicht.
Ich ging 1993 nach Dresden. Als Pre-Opening-Manager und designierter F&B-Direktor sollte ich das historische „Kempinski Hotel Taschenbergpalais“ mit aufbauen. Die erste Adresse in einer Stadt, die gerade mitten im Umbruch ist. Dresden war 1993 noch eine ziemliche Ruine. Kopfsteinpflaster, verfallene Fassaden, viel Grau. Aber gleichzeitig ein Mekka der Kulturwelt: In der Semperoper gab sich alles die Klinke in die Hand, was Rang und Namen hatte. Und drum herum war noch architektonischer Sozialismus. Das war wirklich spannend.
Das Problem war nur: Ich mache mich nicht so gut als dressiertes Alphatier. Wenn ich zu wenig Freiheit habe, bekomme ich einen Lagerkoller. Und der kam in Dresden ziemlich schnell, obwohl ich mich in der Stadt damals sehr wohlfühlte. Was mich bei der Stange gehalten hat, war die Herausforderung. Man bekommt ja nicht jeden Tag die Chance, ein historisches Hotel direkt neben der Semperoper neu zu eröffnen.
Wenn Sie ein Fünf-Sterne-Hotel eröffnen, dann treffen Sie täglich 100 Entscheidungen. Oder vielmehr: Sie müssten täglich 100 Entscheidungen treffen. Wogegen ganz und gar nichts auszusetzen ist, wenn man denn alles selbst entscheiden könnte. Aber als dressiertes Alphatier trifft man diese Entscheidungen eben nicht allein, zumindest nicht verantwortlich. Stattdessen werden sie konsensiert. In den meisten größeren Unternehmen braucht es für jede Entscheidung, die über den Wechsel einer Glühbirne hinausgeht – und selbst da hört es in manchen Unternehmen schon auf – irgendein Gremium.
Schon der Begriff „Gremium“ löst bei den meisten von uns ein weiteres Reizwort aus: Meeting. Das sind die Sitzungen, bei denen die COMOs unterm Tisch verstohlen Taschenbillard spielen, während am Kopfende der langen Tafel irgendein höheres Tier einen ordentlichen Affentanz veranstaltet.
In Dresden beginne ich nicht zum ersten Mal, aber in bis dahin ungeahnter Form unter dieser Kultur zu leiden. Ich bin der Gastronomiedirektor dieses Hotels, aber ich darf nicht mal das Geschirr selbstständig aussuchen. Ich muss jeden verdammten Teller mit einem Gremium klären, das aus der gesamten Führungsmannschaft und meinem Vorgesetzten besteht. Und der ist meistens nicht mal da. Kennen Sie diesen Typ auch, den unerreichbaren Chef, der aber alles absegnen will? Dann kennen Sie schon mal mindestens einen Corporate Monkey.
Nun muss ich ergänzen: Ich war relativ verwöhnt aus früheren Engagements. Unter anderem war ich vorher in Südafrika gewesen. Dort hatte ich in zwei sehr speziellen Grand-Hotels weitgehend schalten und walten können, wie ich wollte. In Dresden aber steckte ich in der Konzernkultur fest und durfte praktisch nichts mehr allein entscheiden. Weil jede Tasse mit den Kempinski-Standards konform gehen muss. Und mit den Befindlichkeiten aller anderen sogenannten Entscheidungsträger. Damit wir uns richtig verstehen: Nichts gegen die Kempinski-Standards. Aber alles ist durchschematisiert. Und was nicht durchschematisiert ist, muss konsensiert werden. Keine Entscheidungsfreiheit, nirgends.
Die Entscheidungen aber sind das, was eine Führungskraft auszeichnet. Die Entscheidungen sind die Momente im Führungsalltag, in denen wir scheitern oder Erfolg haben, wachsen oder stagnieren. Wenn führen entscheiden heißt – wie sollen wir dann führen, wenn wir nicht entscheiden dürfen? Wie sollen wir es jemals zu guten Führungskräften bringen? Wie sollen wir andere zu Leadern machen? Und wenn wir Leader nicht an ihren Entscheidungen messen können, woran denn dann?