Matthew Mockridge

Gate C30


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liegende Meer immer schneller wird. Das ganze Tragwerk der Maschine verzieht sich, ohrenbetäubender Lärm von brechendem Metall. Mein Herz schlägt immer schneller, ich kann nicht mehr atmen, mein Gesicht verzieht sich, ich beiße die Zähne zusammen, Schweißperlen rinnen über meine Stirn und ich fühle, wie unbändige Kräfte immer stärker auf mich einwirken. Der Lärm wird lauter, in wenigen Sekunden wird die Maschine in der Luft zerfetzt werden – und plötzlich reiße ich meine Augen auf.

      Der Wecker klingelte. Es war Montag, 4:30 Uhr morgens, und wie jeden Montagmorgen quälte ich mich aus dem Bett im dunklen Schlafzimmer. Meine Frau Lizzy schlief normalerweise einfach weiter, sie hatte sich mittlerweile an diese Routine gewöhnt und wurde nicht mehr wach, wenn ich aufstand. Aber an diesem Montag war es anders, ich sah, dass sie nicht schlief, sie musste meinen Traum bemerkt haben. Ich deckte vorsichtig ihre Schultern zu, setzte mich ans Fußende unseres Bettes und spürte dann ihre Hand auf meiner Schulter. Ich fühlte mich geborgen und gleichzeitig ertappt. »Musst du wirklich wieder nach Doha? Wolltest du nicht zumindest die Auslandsprojekte etwas runterfahren? Die Kinder und ich brauchen dich hier.« Ihre weichen Worte trafen mich an meinen sensibelsten Stellen. Es war, als wären die Menschen, die mir das meiste bedeuten, am weitesten entfernt von mir, auch wenn ich das alles für sie tue. »Nur noch dieser Deal. Doha wird alles ändern. Wenn ich diesen Deal abschließe, Honey, dann wird endlich alles anders, versprochen.« Es fühlte sich an, als hätte ich diesen Satz schon unzählige Male zuvor gesagt, und ich wünschte mir nichts mehr, als dass er endlich zur Wahrheit würde. Ich atmete tief durch, stand auf und ließ Lizzy allein im Bett zurück. Ich wusste, dass es zwischen uns nicht mehr war wie früher, als wir uns kennenlernten.

      Mit jedem dieser Morgen vergrößerte sich der Abstand zwischen uns. Es fühlte sich an, als würden wir nebeneinander, aber schon lange nicht mehr miteinander leben. Es tat mir weh, weil ich wusste, dass ich Lizzy wirklich liebte. Auch wenn ich immer wieder ging, blieb die Liebe zwischen uns. Ich wusste nicht, was ich tun könnte, um etwas zu verändern, denn die Arbeit, die uns auseinanderzog, gab uns gleichzeitig die Sicherheit, in der wir lebten. Manchmal wollte ich diese Sicherheit am liebsten gegen echte Freiheit eintauschen, aber mir fehlte der Mut.

      Ich hörte Lizzy hinter mir leise sagen: »Es ist so lange her, dass wir als Familie etwas zusammen gemacht haben. Ich vermisse die Abende, die wir mit den Kindern verbracht haben vor dem Kamin mit deinem Lieblingsapfelkuchen mit Zimt und den vielen Rosinen. Komm zurück nach Hause, Jason!« Ich verstand nicht genau, was sie meinte, denn ich war doch noch gar nicht weg. Nur noch ein paar dieser großen Deals, und dann hätte ich hoffentlich mehr Zeit für unsere gemeinsamen Abende. Langsam zog ich die Schlafzimmertür hinter mir zu.

      Die Fliesen des Badezimmers waren kalt und die Ruhe bedrückte mich. In der Dusche, unter dem harten Wasserstrahl stellte ich mir wie jeden Morgen die gleiche Frage: Wann kommt das Gefühl von Ruhe und Glück in mein Leben, das ich schon so lange suche, für das ich jeden Tag so hart arbeite? Es ist, als wäre »morgen« die Antwort – jeden Tag.

      In dem Moment, in dem ich das Wasser abstellte, verflogen meine Gedanken und der Zeitdruck trieb mich in meinen maßgeschneiderten Anzug und ins Auto zum Flughafen. Ich schnitt eine Schneise durch den dichten Morgennebel und verließ dann den noch leeren orange beleuchteten Highway in Richtung Airport. Check-in, Gepäckaufgabe, Security – diese Prozesse liefen für mich mittlerweile automatisch ab. Ich dachte nicht mehr nach, wenn ich mich am Flughafen bewegte. Ich funktionierte nur. Wie immer kaufte ich mir auf dem Weg zum Abflug zwei Tageszeitungen und einen starken Kaffee. Ich musste informiert sein, und gleichzeitig interessierten mich die Informationen so wenig, dass ich immer wieder Kaffee brauchte, um nicht einzuschlafen. Eine schnelle Zigarette in der Raucherlounge. Seit Jahren stand ich hier immer wieder an der gleichen Stelle und fragte mich, wieso ich nicht damit aufhören konnte. Ich sah Menschen, ich hörte sie auch, aber ich spürte sie nicht. Es war, als würde ich durch jeden einzelnen hindurchschauen, als wäre ich unsichtbar und deswegen immer allein, obwohl ich nichts mehr brauchte als Nähe.

      Trockene Nachrichten über den katastrophalen Zustand der Welt, viel zu viel Koffein im Kaffee, blauer Rauch und kalte Schultern. Meine Maschine war fertig zum Einstieg, wir würden gleich starten. Der schwere Sitz in der ersten Klasse des großen Flugzeugs trug mich wie ein Thron zum ersten Zwischenstopp, dem riesigen Flughafen »Istanbul-Atatürk«, einem internationalen Drehkreuz, das Menschen wie mich in die entferntesten Länder führt. Ich stieg aus der Maschine in die kühle Morgenluft. Ich schaute auf mein Ticket und musste weiter zum Gate C30, von hier aus sollte es weitergehen nach Katar.

      Noch eine schnelle Zigarette und ich ging in ein Café direkt in der Abflughalle. Der Duft von Kaffee und warmem Gebäck war überall und ich bestellte einen starken Mokka, der in einer silbernen Kanne zubereitet wird.

      Als ich am Gate C30 ankam, nutzte ich meine Zeit, um letzte Vorbereitungen für die anstehende Verhandlung zu treffen. Ich flog nach Doha in Katar, um meine Beratung für einen Kunden aus der Rohölindustrie abzuschließen, dessen Unternehmen kurz vor dem Verkauf stand. Wenn alles so laufen würde wie geplant, könnten wir heute oder morgen die Verträge unterzeichnen, mein ohnehin schon reicher Kunde wäre mehrere 100 Millionen Euro reicher und ich würde ein weiteres Riesengeschäft abgewickelt haben. Ich war gut in dem, was ich tat. Es machte mich nicht mehr nervös. Es machte mich aber auch nicht mehr glücklich oder stolz. Ich arbeitete in schwindelerregender Karrierehöhe unter unfassbarem Druck – fast wie eine Maschine. Alles passierte automatisch, nur mein Herz spürte ich ganz deutlich. Es wusste schon lange ganz genau, dass mir etwas fehlt. Meine Schuhe waren eng und der Tag war noch jung.

      Die Routine ging ihren Weg, ich folgte dem Protokoll. Eine weitere Zigarette, der nächste Kaffee. Hoch konzentriert studierte ich die vielen Zahlen, die sich aus meinem Laptop über mich ergossen. Ich schaute auf die »Forecast Financial Statements« und fühlte mich dabei wie in einem Tunnel ohne Ausfahrt. Erst die grelle Lautsprecheransage einer jungen Frauenstimme zog mich aus diesem Fokus: »Ladies and Gentlemen, Flight 691, nonstop to Doha, has been delayed for 7 hours.« Meine Damen und Herren, Flug 691, nonstop nach Doha, ist sieben Stunden verspätet.

      Was? Das durfte nicht wahr sein, nicht heute! Nicht am Tag der Abschlussverhandlungen! Meine Konzentration war wie weggeblasen und ich geriet außer mich. Verwirrung und Nervosität füllten meinen Körper. Meine beiden Hände hoben sich von der Tastatur und ballten sich zu Fäusten. Seit sieben Monaten arbeitete ich an diesem Projekt. Nur an diesem Tag war es allen Parteien möglich, sich in Doha zur Unterschrift zu treffen. Ich hatte noch nie ein Meeting verpasst.

      Ich wollte mich weiter aufregen, nach Lösungen suchen: Gab es andere Flüge? Was wäre, wenn ich gestern schon geflogen wäre? Ich fragte mich, ob ich überhaupt dazu in der Lage wäre, sieben Stunden lang am Flughafen gefangen zu sein. Mir wurde klar, dass meine immer lauter werdende innere Debatte nichts an meiner Situation ändern würde. Flug 691 war der einzige Flug nach Katar an diesem Tag. Meine Fäuste entspannten sich. Es war unabwendbar: Ich würde die nächsten sieben Stunden am Gate C30 verbringen.

      Noch 6:59 Stunden bis zum Abflug

      Es war, als wäre durch die Verschiebung meines Fluges die Zeit stehen geblieben. Ich befand mich in einem Zwischenraum, einer Art Wartezimmer, in meinem sonst so schnellen Leben. Es gab plötzlich nichts, was ich tun musste, keinen Druck. Ich hatte sieben Stunden Zeit und wusste nicht, was ich mit diesen sieben Stunden tun sollte. Ich fühlte mich deplatziert, verloren und allein. Der riesige Flughafen brachte Menschen in Bewegung zu Orten auf der ganzen Welt, aber für mich bewegte sich nichts mehr.

      Ich dachte in diesem Augenblick an die Worte von Angela: »Nimm dir immer, was dir zusteht! Wir machen die Regeln, Jason. Du kannst alles haben, was du willst.« Angela de la Barthe ist die Geschäftsführerin der Unternehmensberatung, für die ich tätig bin. Eine der reichsten und einflussreichsten Frauen der Branche. Sie hat das Unternehmen von ihrem Vater übernommen. Angela ist elegant, professionell, eiskalt und berechnend. Es gibt Gerüchte, sie habe mit 27 Jahren ein Bürogebäude im »Financial District« gekauft, um den Portier zu feuern, dessen Service ihr nicht gefallen hat. Weil ich einer der umsatzstärksten Berater der Firma war, meldete sie sich immer wieder persönlich bei mir. Ich hörte sie auch jetzt wieder wie eine Art Stimme im Ohr: »Nimm dir, was dir zusteht, du kannst alles haben,