Wichtigkeit, wie wir und was wir imaginieren.
Klar beweisbar kann Erleben grundsätzlich auch ohne solche traditionell in der Psychotherapie als notwendig angesehenen Prozeduren verändert werden. Wenn z. B. ein „Verstehen“ oder „Durcharbeiten“ gewünschte Ergebnisse bringt, dann – so kann man aus der Sicht des Konzeptes der Aufmerksamkeitsfokussierung zeigen – und nur dann, wenn es nachhaltig zu veränderten Prozessen der Fokussierung beiträgt. Viele Klienten, die mir dies schon berichtet haben, wissen aber aus eigener leidvoller Erfahrung, dass auch z. B. 280 Stunden Psychotherapie solche hilfreiche Umfokussierung nicht bewirkt haben. Viele Therapeuten (im Dienste der eigenen Psychohygiene verständlich) interpretieren dies dann wieder als Zeichen der gravierenden „Störung“ der Klienten. Ich finde es fairer diesen gegenüber, wenn man ganz pragmatisch sagt, dass die Therapie eben nicht zu einer wirksamen Umfokussierung geführt hat. Diese wäre aber grundsätzlich möglich, wie es sich zeigt, oft in wenigen Sitzungen mit konsequenten Fokussierungsstrategien, wie sie in diesem Buch beschrieben werden.
Die Art, wie auf den diversen Sinneskanälen bewusst und besonders auch unbewusst-unwillkürlich jeweils Aufmerksamkeit fokussiert wird und Assoziationsprozesse gebahnt werden (und die damit massive psychische und physiologische Effekte bewirkt), wird in der ericksonschen Welt auch „Seeding“ genannt (Erleben wird „gesät“). Deshalb wird bei allen Angeboten, ob im üblichen Gespräch oder in offiziell als Imagination oder Induktion definierten Angeboten, sehr genau auf die Art der wechselseitig gewählten Sprachmuster geachtet.
Sprachmuster wie „Er ist so …“ oder „Ich habe das Problem X …“ stellen aus dieser Sicht gravierende Verdinglichungen dar, die lebendig fluktuierende Erlebnisprozesse „einfrieren“ oder „betonieren“, meist in sehr einengender und hinderlicher Form. Generell kann man zeigen, dass die Art der jeweils genutzten Sprachmuster intensive, sinnlich wirksame Wirklichkeitskonstruktion wird. Fragt man z. B.: „Seit wann ist Herr X depressiv?“, erzeugt dies ein anderes Erleben als z. B.: „Seit wann hat sich Herr X entschieden, depressiv zu reagieren?“ Diese Sprachfigur soll mehr fokussieren auf Selbstgestaltungsmöglichkeiten und jemanden unterstützen, wieder hilfreiche andere Muster zu aktivieren. Sie wird in der üblichen systemischen Therapie oft genutzt. Aber sie kann, wie ich aus vielen Rückmeldungen weiß, auch starke Schuldgefühle induzieren und damit zu großen, keineswegs hilfreichen Belastungen beitragen. Die Sprachfigur „Seit wann hat sich offenbar etwas in Herrn X entschieden, etwas niederzudrücken, sodass Herr X dies als Depression erleidet?“ kann wiederum Schulderleben mindern, dennoch auf eigene aktive Prozesse verweisen, die damit auch eher wieder als veränderbar erlebt werden können, dabei gleichzeitig auf den Bereich des Unwillkürlichen fokussieren, wodurch z. B. sehr gut ermöglicht wird, wertschätzend weiterzufragen, was in Herrn X eventuell welche Bedürfnisse haben könnte, die sich durch den Prozess des Niederdrückens zeigen. Damit wird dann möglich, von der „Depression“ weg zu fokussieren hin zu dahinter stehenden wichtigen und wertvollen Bedürfnissen.
Bewusst-unbewusst-Dissoziationen und Fokussierung auf intuitives Wissen
Damit die Reise vom gerade vorherrschenden Erlebnisprozess zum gewünschten optimal angeregt werden kann, werden meist auch gezielt Sprachmuster angeboten, die ein gleichzeitig auf mehreren Ebenen wahrgenommenes Erleben („Mehr-Ebenen-Erleben“) unterstützen sollen. So kann auf das Gewünschte systematisch und intensiv fokussiert werden, ohne dass dies sich antagonistisch auf bzw. gegen das gerade noch vorherrschende Erleben auswirken müsste. Dafür dienen typischerweise Formulierungen, die ein „Sowohl-alsauch“ anstelle eines „Entweder-oder“ anbieten. Zum Beispiel: „Während Sie hier im Moment noch in Ihrem gewohnten Denken mit allen möglichen, vielleicht sogar Sie bedrängenden Themen beschäftigt sind, und das ist doch ganz in Ordnung, das würde wahrscheinlich jedem Menschen so ergehen, könnten vielleicht schon Ihre intuitiven (oder Ihre ‚unbewussten‘) Wahrnehmungsinstanzen beginnen, Erinnerungen auszuwählen, die hilfreiche Schritte enthalten für Ihre Anliegen, zunächst aber vielleicht noch gar nicht bewusst bemerkbar, oder tauchen auch schon bewusst deutlicher wahrnehmbar erste hilfreiche Ideen auf?“
Es ist für mich bis heute immer wieder sehr eindrücklich und faszinierend, wie oft Menschen, die berichten, sie hätten seit Jahren keinerlei hilfreiche Erfahrungen gemacht oder könnten sich an nichts erinnern, was sie je als unterstützend erlebt hätten, in kürzester Zeit plötzlich Zugang zu solchen Erfahrungen erleben, wenn sie nur achtungsvoll dabei unterstützt werden, einerseits die bisherigen Sichtweisen beibehalten zu dürfen und gleichzeitig nach Alternativen zu suchen.
Will man solche Mehr-Ebenen-Prozesse konstruktiv gestalten, erweist es sich als nützlich, ausführlich mit den Klienten auch darüber zu reden, ob und wie sie schon einmal erlebt haben, dass sich etwas in ihnen meldete wie eine Art intuitives Wissen, welches ihnen wertvolle Dienste erwiesen hat. Zum Beispiel dass sie auf etwas, was kognitiv sehr überzeugend klang, mit einem merkwürdigen Gefühl von „Das stimmt nicht für mich“ reagierten, auch wenn sie das nicht kognitiv begründen konnten, dann eher dem intuitiven Gefühl folgten – und sich dies später als sehr stimmig und hilfreich erwies. Oder dass sie etwas als sehr stimmig für sich erlebten und danach handelten, auch wenn sie dies nicht kognitiv begründen konnten – und sich dies später als absolut adäquate Reaktion von ihnen erwies. Oder dass sie ein solches Gefühl von Stimmigkeit hatten, dem aber nicht folgten – und sich dies später als fatale Entscheidung erwies. Solche Episoden, die nach meiner Erfahrung jeder Mensch vielfältig gemacht hat, weisen den Weg zu intuitivem Wissen, zu dem, was Damasio (1997) „somatische Marker“ nennt. Die gesamte moderne Hirnforschung weist ja mit Nachdruck auf genau diese Kompetenzbereiche hin, wenn sie zeigt, dass die kognitiven Funktionen des Neocortex nur zuarbeitende „Berater“ der Zentren des limbischen Systems und der anderen Bereiche im Mittelhirn und Stammhirn sein können (Roth, Hüther, Damasio). Im Focusing werden solche Prozesse „Felt Sense“ genannt, mit ihnen kann hervorragend konstruktiv gearbeitet werden (Gendlin 1981).
So kann fokussiert werden auf das, was man „intuitive Kompetenz“ oder „intuitive, kluge Steuerungsinstanz in uns“ oder „organismisches Wissen“ nennen könnte (Erickson sprach in diesem Zusammenhang immer von „Trust your unconscious mind“ – womit er genau diese Instanzen in uns meinte). Schon diese Art der Fokussierung bewirkt in den meisten Fällen, dass die Menschen, die sich damit beschäftigen (nicht nur die Klienten, auch die Therapeuten!), gelassener, kraftvoller, zuversichtlicher, selbstbewusster werden. Wenn dann wieder (wie bei der Entwicklung von Zielvisionen und der Rekonstruktion von hilfreichen Episoden der Vergangenheit) sinnlich detailliert dieses Erleben intuitiver Kompetenz miteinander „ausgemalt“ wird, wird es noch viel intensiver in der Gegenwart erlebt. Dies wieder bietet die aus meiner Sicht entscheidende Chance, die ganze weitere Kooperation als ein die Autonomie, die Eigenkompetenz und die Wahlkompetenz würdigendes und stärkendes Ritual zu gestalten. Denn dann können alle eigenen Ideen der Klienten, vor allem aber auch alle Angebote der Therapeuten auf Stimmigkeit hin für die einzigartigen Menschen geprüft werden – immer wieder mit dem Fokus darauf, wie man mit diesen „somatischen Markern“, diesem „Felt Sense“, dieser intuitiven Kompetenz darauf antwortet. Dann kann auch jedes Gespräch als ein sehr kreatives Brainstorming für die unterschiedlichsten Perspektiven, Anregungen, Entwürfe und Vorgehensweisen gestaltet werden. Auch eigene Ideen der Therapeuten, sogar direkte Vorschläge von ihnen sind dann keineswegs mehr hinderlich oder wirken eventuell manipulativ, sondern sind nur jeweils Dienstleistungen, welche die Autoritäten im Kooperationsprozess, nämlich die Klienten, jeweils (fast ihre Kompetenz zelebrierend) auf Stimmigkeit hin prüfen. Dann kann es auch weder für die Klienten noch für die Therapeuten ein Versagen oder Unfähigkeit signalisierende „Fehler“ geben, sondern nur jeweils wertvolle Anregungen, die wieder nützlich abgestimmt werden mit der autonomen, klugen intuitiven Antwort. „Fehler“ werden dann kongruent erlebbar als wertvolle Informationen, die in gesunder Weise dafür genutzt werden können, noch achtungsvoller mit den Rückmeldungen aus dem eigenen, organismischen Wissen umzugehen. Dies wiederum unterstützt hilfreiche Lernprozesse (siehe auch das Kapitel Die Klinik als lernende Organisation).
Die kontinuierliche, quasi rituelle Fokussierung auf das intuitive Wissen wirkt auch fast immer als sehr gesundheitsförderliche Musteränderung, denn in unserer Kultur lernen