Helm Stierlin Mai 2004
Vorwort
WAS LANGE WÄHRT, WIRD ENDLICH WAHR?
Seit Jahren drängen mich Freunde und Kollegen, ich solle doch endlich einmal meine Arbeiten zum hypnosystemischen Ansatz in Buchform bringen. Zwar fand ich die Idee grundsätzlich auch gut, da ich aber immer wieder neue Projekte anging und es mir einfach wichtiger war, einige andere Visionen umzusetzen (wie z. B. den Aufbau der hypnosystemischen Psychosomatik an der Fachklinik am Hardberg in Siedelsbrunn und die SysTelos-Klinik in Bad Hersfeld), habe ich dieses Vorhaben immer wieder in die so genannte Zukunft geschoben.
Dabei konnte ich mich immer wieder damit trösten, dass ja viele der Konzepte und Interventionsideen, die ich über die Jahre entwickelt habe, auf Audiocassetten oder als Video-Editionen erschienen sind. Andererseits hat diese Haltung mit dazu beigetragen, dass inzwischen viele Kollegen, die bei mir an diversen Weiterbildungen und Ausbildungsprogrammen teilgenommen haben, diese Konzepte von mir übernommen und in eigenen Veröffentlichungen verwendet haben. Dies hat mir die Ehre beschert, für mindestens acht solcher Bücher ein Vorwort zu schreiben, was ich auch gerne getan habe, weil dort wenigstens die Quellen fair zitiert wurden. Dafür möchte ich mich bei den Kollegen bedanken.
Allerdings gab es auch andere Phänomene, so z. B., als vor einigen Jahren ein vorher von mir als Freund angesehener Mensch die Inhalte eines meiner Seminare mit dem (von Bernhard Trenkle und mir entworfenen) Titel „Familientherapie ohne Familie“ als Teilnehmer aufgezeichnet hatte. Wie sich schließlich herausstellte, hatte er ohne Rücksprache und Zustimmung sowohl den Titel als auch die Inhalte meines Seminars in seinem Buch verwendet und als von ihm stammend ausgegeben. Ich muss gestehen, dass es mir nicht sofort gelang, dieses Verhalten meines Bekannten (den ich seitdem auch nicht mehr nahe stehen lasse) als Ehrung meiner Originalbeiträge auf seine (verschämte?) Art anzusehen. Da hilft, wie mein Sohn mir empfiehlt, am besten die buddhistische Haltung des Nicht-An haf tens.
Schon um nicht mehr mit gequältem Gesicht auf die Fragen danach, wann denn nun endlich ein Buch von mir erscheine, reagieren zu müssen, habe ich mich nun doch entschlossen, dieses hier vorzulegen. Neben einer ausführlichen Einführung enthält es verschiedene Artikel zu diversen Schwerpunktthemen in unterschiedlichen Anwendungsfeldern des hypnosystemischen Konzepts. Diese Artikel sind in ihrer Ursprungsform im Verlauf der letzten 20 Jahre in verschiedenen Büchern und Fachzeitschriften erschienen. Sie stellen eine kleine Auswahl aus meinen Veröffentlichungen dar, die repräsentativ sowohl für psychotherapeutische als auch für Organisationskontexte sein können. Zwar hätte man noch viele weitere Artikel aufnehmen können, aber das hätte den Rahmen des Buches gesprengt. Vielleicht gibt es ja irgendwann noch einmal ein ähnliches Projekt … Die Artikel wurden aktualisiert, aber im Wesentlichen in der Originalfassung belassen. Diese Entscheidung wurde mit Bedacht getroffen, um den Lesern auch die Möglichkeit zu geben, Entwicklungen nachvollziehen zu können, die sich in 20 Jahren vollzogen haben. So braucht auch, wer sich für diese Konzepte interessiert, nicht mehr mühsam durchs Netz zu surfen, um die bisher verstreuten Artikel (hoffentlich) genießen zu können.
Mein Freund Bernhard Trenkle charakterisiert mich gerne mit der Bemerkung, er habe gehört, dass ich vor einiger Zeit selbst etwas irritiert gewesen sei, als ich auf dem Weg zu einer professionellen Verpflichtung beim Blick aus dem Fenster des ICE-Speisewagens im entgegenkommenden ICE im dortigen Speisewagen mich selbst habe sitzen sehen, auf dem Weg zu einer anderen professionellen Verpflichtung an einem anderen Ort. Ich kann dazu nur sagen, dass mich diese Legende ehrt, ich wahrscheinlich (unbewusst) zwar auch seit langer Zeit an dem Phänomen der Bilokalisation arbeite, so weit nun aber doch nicht gediehen bin.
Mit einem hat Bernhard allerdings Recht: Ich war viel unterwegs in den letzten Jahren. Bei dem Versuch, die diversen Kontexte einigermaßen zufrieden stellend auszujonglieren, habe ich immer wieder dazu geneigt, die Vollendung dieses Buches zu verschieben – zumal ich selbst der Meinung war (und es immer noch bin), dass man nicht jede Idee und jede Interventionsstrategie, die man entwickelt hat, sofort an die große Glocke hängen muss und sich ob ihrer vermeintlichen Bedeutungsschwere quasi gleich ethisch verpflichtet fühlen muss, sie der breiten Öffentlichkeit kundzutun. Letztlich war es mir doch eine große Hilfe, so konsequent mahnende (und manchmal auch quälende) Erinnerungshilfen dafür zu bekommen.
Deshalb möchte ich mich bei allen, die nicht locker ließen, wenn ich sie vertröstet habe, sehr herzlich bedanken. Insbesondere gilt dieser Dank Helm Stierlin, Fritz Simon, Gunthard Weber, Bernhard Trenkle, Bernd Schmid und Jeffrey Zeig. Und ich hoffe auch, dass Helm Stierlin so jetzt endlich das Gefühl entwickeln kann, mich „sauber“ zitieren zu können und nicht immer auf (für ihn) so exotische Audio-Publikationen verweisen zu müssen.
Gunther Schmidt im Juli 2004
Einführung
DER WEG VOM SYSTEMISCHEN ZUM HYPNOSYSTEMISCHEN ANSATZ
In diesem Buch möchte ich einige der vielen Chancen beschreiben, die sich im Feld der Psychotherapie und der Beratung von Individuen, Teams und Organisationen durch hypnosystemische Konzepte eröffnen. Ich habe diesen Begriff „hypnosystemisch“ vor ca. 20 Jahren geprägt, um eine spezifische Form der Integration systemisch- konstruktivistischer und ericksonscher Hypnotherapiekonzepte zu kennzeichnen, für deren differenzierte Ausgestaltung ich mich engagiere, seit ich 1979 das Glück hatte, an Milton Ericksons unbeschreiblicher Verbindung von Genius, Fleiß und riesiger Erfahrung teilhaben zu dürfen.
In den weiteren Kapiteln bietet das Buch Artikel zu diversen Anwendungsfeldern der hypnosystemischen Arbeit. Da ich den Vorzug genieße, auch begünstigt durch meine beiden Berufe als Diplomvolkswirt und Facharzt für psychotherapeutische Medizin, in unterschiedlichsten Kontexten als Psychotherapeut, Berater, Coach, aber auch als Führungskraft zu arbeiten, konnte ich die hier beschriebenen Konzepte in all diesen Kontexten anwenden. Die dabei gemachten Erfahrungen fließen ein in die verschiedenen Kapitel. Diese Artikel wurden in ihrer ursprünglichen Form im Laufe meiner professionellen Entwicklung zu verschiedenen Zeiten geschrieben und in verschiedenen Büchern und Fachzeitschriften veröffentlicht. Sie wurden für das hier vorliegende Buch überarbeitet und aktualisiert. Sie sind in sich selbst jeweils als geschlossene Gestalt nebeneinander gestellt und erheben gerade nicht den Anspruch, aufeinander aufzubauen. Da und dort werden die Leser und Leserinnen deshalb auch bemerken, dass sich bestimmte wesentliche Aspekte des hypnosystemischen Konzepts in ihnen manchmal in unterschiedlicher Beleuchtung wieder finden, eine hoffentlich eher hilfreich wirkende, das kontextbezogene Verständnis des Konzepts vertiefende Redundanz. Dabei habe ich aber Wert darauf gelegt, dass ihre ursprünglichen Grundaussagen erhalten blieben, schon deshalb, damit auch meine eigene Entwicklung deutlich nachvollziehbar wird, hin zu immer mehr Transparenz, Achtung und, ja, sogar einer gewissen Demut vor der autonomen Kompetenz der Klienten und Klientinnen, mit denen ich arbeiten durfte. Ein für mich wichtiger Wahlspruch ist: „Wer einigermaßen der Gleiche bleiben will, muss sich ständig verändern.“ Und bedeutsam ist für mich Maturanas Urteil: „Leben ist ein Erkenntnis gewinnender Prozess“ (1982). Ständige Lernprozesse als der entscheidende Wirkstoff für Lebendigkeit resultieren daraus. Dieses Buch soll auch ein wenig überprüfbar machen, ob es mir möglich war, solche (hoffentlich hilfreichen) Lernprozesse zu machen.
Durch die Verbindung dieser beiden zentralen Konzepte (und ihre Anreicherung durch diverse andere wichtige Einflüsse wie z. B. Psychodrama, Ideen aus Gendlins Focusing (1981), Transaktionsanalyse und Körpertherapien wie z. B. Hakomi) lässt sich das Spektrum von Beschreibungs- und Interventionsmöglichkeiten, welches wir aus den „klassischeren“ systemisch-konstruktivistischen Ansätzen kennen, deutlich erweitern. Dadurch ergeben sich sehr viel mehr Chancen, die professionellen Angebote in Therapien und Beratungsprozessen passgenau auf die Einzigartigkeit der Kundensysteme abzustimmen und ihnen so würdigend gerecht zu werden. Mit „klassischer“ meine ich hier Modelle wie z. B. den Mailänder Ansatz (Boscolo, Cecchin, Prata, Selvini Palazzoli) und dessen diverse Weiterentwicklungen, die Konzepte unserer so genannten Neuen Heidelberger Schule (Stierlin, Simon, Weber, Schmidt, Retzer, Schweitzer