ebenfalls sterben zu wollen, zu erstarren.
•Nachfolgende Interventionen beim Tod des Angehörigen wie polizeiliche Befragungen: Immer wieder werden Hinterbliebene unmittelbar nach dem Tod des nahen Menschen befragt oder zur Identifizierung des Verstorbenen herangezogen. Diese Prozeduren werden oft als völlig unpassend und überfordernd, manchmal auch als kränkend erlebt. Ein Vater kann nicht einschlafen, weil jeden Abend das Bild von der Identifizierung seines verstorbenen Sohnes auftaucht, der in einem abweisenden, kahlen Kühlraum aufgebahrt war.
•Beschlagnahmung des Leichnams: Wird der Leichnam des verstorbenen nahen Menschen z. B. bei einem Unfall oder Suizid unmittelbar nach dem Tod beschlagnahmt, wird er den Hinterbliebenen entzogen. Sie können nicht die so wichtige unmittelbare Nähe zum Verstorbenen erleben, vielmehr ist er für sie fern, und sein Tod wird noch irrealer.
•Großschadensereignisse mit Präsenz der Öffentlichkeit: Stirbt ein naher Mensch bei einem Großschadensereignis wie bei der Love-Parade in Duisburg, verstärken die mediale Berichterstattung und häufig auch die Präsenz von Presse das traumatische Verlustereignis, zudem sind die Hinterbliebenen oft der Neugier durch das Umfeld ausgesetzt. Wird der Tod eines nahen Menschen bei einem Großschadensereignis selbst miterlebt, intensivieren das meist auftretende Chaos und die massiven Reize der Rettungsaktionen das Verlusttrauma (Müller-Lange, Rieske u. Unruh 2013; Hausmann 2016).
•Unklare Wartesituationen beim Sterben des nahen Menschen: Nicht selten müssen wie im Fallbeispiel 1 Angehörige in oder vor der Klinik auf die Nachricht über den Zustand des schwer verunglückten nahen Menschen warten. Sie befinden sich dabei in einem extrem spannungsvollen, ohnmächtigen und deshalb traumatisierenden Zustand zwischen einer verzweifelten Hoffnung und einer zerreißenden Angst vor einer möglichen Todesnachricht.
•Abgebrochene oder nicht zugelassene Abschiedsrituale: Schwere Verluste, bei denen wie in der Covid-19-Krise die Beziehung abgebrochen wurde bzw. keine persönliche Begleitung beim Sterben möglich ist, wirken häufig traumatisierend, besonders auch wegen der Schuldgefühle gegenüber dem Verstorbenen. So muss die Familie wegen der Corona-Hygienemaßnahmen draußen auf den Treppenstufen des Krankenhauses sitzen, während der Vater einige Meter weiter allein in einem Krankenzimmer stirbt.
In den traumatisierenden Kontexten werden immer auch Auslösereize, sogenannte Trigger konditioniert, die dann später entweder die Traumareaktion oder Verlustschmerz-Reaktion auslösen. Diese Trigger sind oft Aspekte aus der Verlusttrauma-Situation, z. B. der Schrei des sterbenden nahen Menschen, sein Gesichtsausdruck, das von ihm getragene Kleidungsstück, der Ton der Sirene oder das Blaulicht, oft aber auch kleinste, scheinbar nebensächliche Aspekte wie der Geruch im Vorraum der Intensivstation, die Brille des Notarztes oder die Knöpfe an der Uniform der Sanitäter.
Merke!
Traumatisierende Kontexte bei einem Verlust verstärken in aller Regel die Traumatisierung und sind Teil eines Verlusttraumas. Zudem werden in den traumatisierenden Kontexten Trigger für traumatische Trauerreaktionen konditioniert.
1.4Traumatisierende Verluste als schreckliche Überwältigungs- und Vernichtungserfahrung
Treffen mehrere der genannten Merkmale eines traumatisierenden Verlustes und traumatisierende Kontexte beim Tod des nahen Menschen zusammen, dann setzt bei den Betroffenen ein massives Traumaerleben ein, das sich im Wesentlichen in fünf große Erlebensbereiche zusammenfassen lässt (Hanswille u. Kissenbeck 2010; Peichl 2012; van der Kolk 2019):
•Erschrecken und Entsetzen: Für die Betroffenen ist das denkbar Schrecklichste und zugleich unvorstellbar Schlimmste, nämlich der Tod eines nahen Menschen, eingetreten. Im Erschrecken kommt es zu einem Tunnelblick und einem ersten Erstarren (Schauer u. Elbert 2010), der Atem stockt, und das Herz steht still. Das Entsetzen ist oft mit einem Gefühl von Grausamkeit und Grauen verbunden.
•Überwältigung und Schock: Der Tod eines nahen Menschen raubt den Betroffenen jede Handlungsmöglichkeit und wird als totale Überwältigung erlebt. Erfahrungen der Desorientierung, Verwirrung und Sprachlosigkeit sind Ausdruck der Überwältigung und verstärken diese. Es folgen weitere Aspekte des Schocks wie verstärkte Erstarrung, Denkblockaden, Zittern, schwache Beine, Übelkeit und emotionale und körperliche Taubheit. Im Schock setzen nun die verschiedenen Dissoziationserfahrungen ein (vgl. nächstes Kapitel), durch die die grausame Realität als unwirklich und irreal erscheint.
•Lähmung und Hilflosigkeit: Die durch den Schock ausgelöste im Körper erlebte Lähmung zeigt den Hinterbliebenen, dass sie nichts mehr für ihren nahen Menschen tun können. Sie sind durch den Tod des nahen Menschen und die eigene Lähmung jeder Handlungsmöglichkeit beraubt und erfahren dies als gänzlichen Kontrollverlust und Hilflosigkeit.
•Ohnmacht und Verzweiflung: Die Hilflosigkeit überflutet als Ohnmachtsgefühl die Betroffenen und entzieht ihnen jegliche Energie und Kraft. Dies äußert sich als körperliche und emotionale Schwäche, die bis zu einem Kreislaufkollaps oder einer körperlichen Ohnmacht gehen kann. Die Ohnmacht wiederum zeigt sich nun auch emotional als panikartige und abgründige Verzweiflung, in der es keine Hoffnung auf Rettung des Verstorbenen und damit der eigenen Person gibt. Die Verzweiflung leitet dann das Aufgeben und die Unterwerfung unter die irreversible Tatsache des Todes ein.
•Intensivste Verlustschmerz-Attacken: Zwar wird in der Überwältigung und im Schock der Verlust nur teilweise realisiert, aber in der Tiefe wird der Tod des nahen Menschen durchaus gewusst. Das ruft kurze intensivste Durchbrüche des Verlustschmerzes hervor, z. B. in Form eines Schmerzensschreis, des Schluchzens, einer Weinattacke oder eines Weinkrampfes. Die Verlustschmerz-Attacken sind dann meist so intensiv, dass es entweder zu einem Zusammenbruch oder zu einer raschen Dissoziation, also zur Abspaltung des Schmerzes kommt.
Beachte!3
Vor der Trauer steht der Verlustschmerz, der als intensive körperliche Erfahrung den Verlust signalisiert und sich zunächst im Schmerzensschrei, im Schluchzen und dann in einer Weinattacke äußert.
Natürlich sind diese hier beschriebenen Erfahrungsbereiche bei den Hinterbliebenen oft im Chaos der Gefühle vermischt, wechseln sich abrupt ab oder brechen immer wieder erneut intensiv auf. Die intensiven Gefühle gehen wie im folgenden und im nächsten Exkurs beschrieben auf eine neurobiologische Reaktion des Organismus der Betroffenen zurück.
Exkurs:
Das Kampf- und Fluchtsystem – Freezing, Lähmung und Numbing
Das Kampf- und Fluchtsystem ist die evolutionsbiologische Grundlage für die unmittelbare Traumareaktion, auch bei einem Verlusttrauma (Flatten 2011; Peichl 2012; Elbert u. Schauer 2014).
Eine lebensbedrohliche Situation aktiviert bei Säugetieren und beim Menschen die Amygdala, die in beiden Gehirnhälften lokalisiert und ein zentraler Teil des limbischen Systems, des emotionalen Gehirns, ist. Die Amygdala alarmiert den ganzen Organismus, indem sie die Stressachse mit dem Hypothalamus, der Hypophyse und der Nebennierenrinde aktiviert. Es kommt zu einer starken Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin, um den Organismus in seinen Kampfoder Fluchtmodus zu versetzen. Der Blutdruck und die Herzrate steigen, der Atem wird schneller und flacher, es kommt zu Schweißausbrüchen, und die Muskelspannung nimmt zu.
Der Organismus ist nun bereit zu kämpfen oder zu fliehen. Im Kampf oder in der Flucht wird dann die bereitgestellte körperliche Aktivierung und Energie umgesetzt. Ist beides aber nicht möglich, greift der Organismus auf die letztmögliche Überlebensreaktion zurück, auf den evolutionsbiologisch angelegten Totstellreflex. Dieser Reflex ist bei Säugetieren die einzige Möglichkeit, einem Verfolger zu entkommen, wenn dieser von dem scheinbar toten Tier ablässt. Nun wird der ganze Organismus eingefroren, was als Freezing bezeichnet wird. Auch die einsetzende Paralysierung ist Zeichen des Schocks.