Joyce Carol Oates

Cardiff am Meer


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und ist (anscheinend) etwas schwerhörig, aber für eine Einwohnerin vom Bundesstaat Maine erstaunlich freundlich, denkt sich Clare; die Großtante ist sehr neugierig auf Clare, hört aber anscheinend gar nicht zu, was Clare ihr erzählt, denn sie fragt Clare mehr als einmal, wann sie denn nach Cardiff komme und bricht dann ganz unvermittelt das Gespräch ab, so als ob sie jemand gerufen hätte. »Also gut dann! Ausgemacht. Du wohnst bei uns, Cla-re. So lange du willst.«

      »Du wirst sehen, meine Liebe – es ist sehr viel Platz in dem wunderschönen alten Haus deiner Großmutter Donegal.«

      5.

      Drei Tage später kommt Clare in Cardiff, Maine, an.

      Betätigt die Türklingel des schon etwas heruntergekommenen, ehrwürdigen alten Steinhauses in der Acton Avenue 59, aus dem nur spärliches Licht dringt.

      Ein Haus wie aus dem Märchenbuch. Ein Relikt viktorianischer Zeiten, in einer Straße mit vielen ähnlich großen, massiven, mächtigen Wohnhäusern, zurückgesetzt von der Straße, zwischen hohen Hemlocktannen und wuchernden Ligusterhecken.

      Die Donegals müssen sehr wohlhabend sein, denkt Clare. Oder waren in vergangenen Zeiten auf jeden Fall sehr wohlhabend.

      Cardiff, Maine, ist eine verfallende Textilstadt aus dem neunzehnten Jahrhundert, die es noch nicht ganz geschafft hat, sich für den Tourismus zu öffnen, so wie andere Städte in diesem Teil des Staates. Noch immer ein malerisches Städtchen an der Küste, selbst im Verfall. Mühlen und Fabriken sind lang verlassen, bunt verstreut Outlets und »Antik«-Läden, Boutiquen, die Kunsthandwerk verkaufen.

      Acton Avenue ist eindeutig eine der repräsentativsten Straßen Cardiffs, oder war es zumindest, auch wenn viele Häuser nahe dem Stadtkern nun für gewerbliche Zwecke genutzt werden. Teils Apartments, teils Büroräume. Eine würdevolle altrosa Backsteinvilla wurde ins Ashford County Historical Museum umgewandelt; ein anderes weitläufiges viktorianisches Anwesen trägt das bescheidene Schild CARDIFF COUNTY FAMILY PLANNING & SERVICES.

      Clare klingelt ein zweites Mal. Erinnerung an die Halloweenabende in St. Paul, als sie inmitten einer Gruppe von Kindern in Masken und Kostümen aufgeregt und in ängstlicher Erwartung an Häusern wie diesem zu klingeln gewagt hatten, während ihre Eltern in den Autos am Straßenrand warteten; wie erleichtert sie waren, wenn niemand öffnete. Obwohl im Haus Licht brennt, fragt Clare sich, ob jemand zu Hause ist. Immergrüne Zweige wuchern an den Seiten des Hauses und verdunkeln die Fenster im Erdgeschoss. Das Schieferdach ist in großen Teilen mit Moos bewachsen und kleine Bäumchen schlagen in den verstopften Regenrinnen Wurzeln. Clare riecht verrottendes Laub, feuchte dunkle Erde, ein Hauch organischer Fäulnis steigt von der Veranda herauf, auf der sie steht. Dann plötzlich, so sanft wie eine vertraute Liebkosung, dieser Gedanke: Ist dies zu Hause? Bin ich hier am richtigen Ort?

      Als Waisenkind ist man niemals am richtigen Ort. Obwohl man sich dies nicht gerne eingesteht. Clares Herz schlägt schneller vor Erwartung. Sie sollte es besser wissen, sagt sie sich selbst. Sie ist kein naives Kind mehr, sie hat Übung darin, große Hoffnungen nicht an sich ranzulassen, so wie man einen anhänglichen Hund nicht zu nah an sich ranlässt.

      Nein! Dies ist auf keinen Fall dein Zuhause.

      Nahezu 700 Kilometer von Bryn Mawr, Pennsylvania, bis Cardiff, Maine. Ungefähr sechs Stunden über die Interstate-Autobahn, zu weit für einen Tag, doch dann auch wieder zu nah, um die Fahrt in zwei Tage aufzuteilen. Wenn Clare einen Begleiter hätte …

      Clare hat keinen Begleiter. Es ist klüger, die Fahrt in zwei Tagen zu absolvieren, so wie sie es gemacht hat, und vorsichtig zu fahren. Mit dem Gefühl, von einer Erbschaft gesegnet zu sein, der ersten in ihrem Leben, reihte sich Clare in die Langsamfahrer auf der rechten Spur der Interstate-Autobahn ein, die die Fahrer auf der Überholspur regelmäßig zur Weißglut bringen.

      Seit dem Anruf von Lucius Fischer hat sie an nichts anderes denken können – Großmutter, Testament. Erbe. Und jetzt ist sie da.

      Stimmen, drinnen im alten Steinhaus. In die massive Eichentür ist ein rundes Fenster eingelassen, durch das Clare lediglich ein gedämpftes Aufblitzen sehen kann, als der Lichtschalter angeht. Schwungvoll öffnet sich die schwere Eichentür, und zwei ältere, eigentümlich gekleidete Damen begrüßen Clare überschwänglich wie zwei aufgeregte Papageien.

      »Da bist du ja! Oh, du siehst aus wie –«

      »– wie er. Dein Daddy –«

      »– unser Conor –«

      »Ohh – ja, das tut sie!«

      Die Stimmen beben. Tränen schimmern in den Augen. Die größere der beiden Frauen presst ihre Hand gegen ihre flache Brust, keucht.

      »Wie gut – Gott sei Dank! – du bist hier –«

      »– sicher – hier –«

      »Herzlich willkommen, Clare –«

      »Komm rein, meine Liebe. Du musst ja so –«

      »– erschöpft sein.«

      »– ausgehungert! – wollte ich sagen, meine Liebe, als diese unverschämte Person mich unterbrach –«

      »Sie unterbricht mich die ganze Zeit, Clare – niemand ist so unverschämt wie sie

      »– ausgehungert nach dieser langen Fahrt –«

      »– und erschöpft –«

      »– komm herein, Liebes –«

      »– du bist Clare, nicht wahr? –«

      »– haben schon gewartet auf –«

      »– auf dich. Seit –«

      »– Jahren.«

      Inmitten dieser aufgeregten Begrüßungsorgie ist Clare ganz benommen. Die Frauen zupfen ungeduldig an ihr herum. Sie wird umarmt und noch einmal umarmt. Dann noch einmal umarmt, von dünnen Armen, die überraschend kräftig zudrücken und ihr die Luft aus dem Brustkorb herauspressen.

      »– wie er! Dein Daddy –«

      »– dein armer, armer Daddy –«

      Wischen sich die Augen. Wischen sich über die Wangen, auf denen Tränen glitzern. Die größere verströmt einen süßlichen Duft von abgestandenem Talkumpuder, die kleinere einen scharfen Arzneigeruch auf alter Haut.

      »Mein Liebes, ich bin Elspeth –«

      »Ich bin Morag –«

      »– Maudes jüngere Schwester –«

      »– Maudes jüngere jüngere Schwester –«

      »Wir haben telefoniert, Liebes –«

      »Sie hat mir den Hörer einfach weggeschnappt, und dann –«

      »Soll ich deinen Koffer nehmen, Liebes –«

      »– hat sie mich noch nicht einmal kurz Hallo sagen lassen.« Morag, die kleinere der beiden, lässt nicht locker, vorwurfsvoll. »Nichts darf ich.«

      Clare wird von ihren beiden Großtanten Elspeth und Morag ins Haus geführt, in ein Foyer mit fleckigem Marmorboden. Der Geruch von moderndem Laub und feuchter Erde vermischt sich nun mit dem strengen Duft der alten Damen und der stickigen Luft des Gemäuers. Wie weichgefiederte Vögel drücken sich die beiden Frauen – die Großtanten – nah an Clare heran. Sie hätte nicht sagen können, wer Elspeth war und wer Morag (beeindruckende schottische Namen!). Eine der beiden nimmt ihr den Koffer aus der Hand, doch der fällt sofort zu Boden und streift Clares Fuß – zu schwer der Koffer für die alte Dame.

      »Oh – du! Was hast du getan!«

      »Nichts! Ich habe nur versucht –«

      »Immerzu mischst du dich ein und vermasselst alles. Das arme Mädchen ist noch keine fünf Minuten hier und du lässt den Koffer auf ihren Fuß fallen. Gib ihn mir, Clare – ich lasse ihn nicht