Leitgedanke
»Die Menschen werden versuchen, Dich davon zu überzeugen, dass Empathie in Deinem Berufsleben nichts zu suchen hat. Akzeptiere dieses falsche Versprechen niemals!«
Tim Cook, »Commencement Address« 2017 im MIT (Massachusetts Institute of Technology), traditionelle Rede zur Verleihung des akademischen Abschlusses
Einleitung
Ich bin zufällig in der Tech-Branche gelandet. Vor fast zwei Jahrzehnten, kurz nach meinem Bachelor-Abschluss in russischer Sprache und Literatur an der Sorbonne in Paris, schrieb ich mich an der ENS Fontenay-St-Cloud ein. Die Absolventen dieser Schule schlagen vielfach eine akademische Laufbahn ein oder klettern die Karriereleiter in Regierungskreisen nach oben. Das war nichts für mich. Also wechselte ich nach einigen Wochen an eine völlig andere Art von Schule: das IEP Paris, besser bekannt als Sciences Po. Mein neuer Studiengang erwies sich als Tor zu einer neuen Welt. Ich tauchte ein in die Welt der Geisteswissenschaften und kam mit Soziologie, Politikwissenschaft, Makro- und Mikroökonomie, Geschichte und so vielen anderen Dingen in Berührung. In vielerlei Hinsicht war es eine Landkarte der Welt.
Wohin mich dieser Weg führte? Überraschenderweise in Richtung Tech-Start-ups – vom Aufbau des »russischen Amazon« (Ozon.ru), über ein Online-Reisebüro und Restaurantreservierungssystem bei Booking.com, Priceline und OpenTable bis hin zu Compass, einem Pionier der Immobilien-Plattformen. Im Laufe der Jahre begegneten mir in der Tech-Welt (aber auch darüber hinaus) immer wieder Skeptiker, nach deren Meinung der einzige »praktische« Nutzen meines geisteswissenschaftlichen Hintergrunds darin bestand, dass er mich auf ein Leben voller Abende in Pariser Cafés mit existenziellen Diskussionen vorbereitete. Und nach deren Meinung es in Anbetracht des Fachgebiets, in dem ich letztlich gelandet bin, doch viel besser für mich gewesen wäre, wenn ich eine Ingenieur-nahe Ausbildung absolviert hätte. Dem widerspreche ich ausdrücklich. Wenn mich 15 Jahre in der Tech-Branche eines gelehrt haben, dann das: Je mehr sich ein Unternehmen auf Technologien verlässt, desto mehr braucht es Menschen, die neugierig auf die Welt um sich herum sind. Menschen, die sich intensiv mit der Vergangenheit befassen, um zu verhindern, dass sich Fehler wiederholen. Menschen, die sich in andere hineinversetzen können und verstehen, wie und warum jemand auf bestimmte Umstände und Veränderungen reagiert.
Im Laufe der Jahre reifte in mir die Überzeugung, dass wir Führungskräfte der Tech-Branche allzu oft analytische, technische und IQ-basierte Fähigkeiten überbewerten und weniger auf die soziale Vielfalt der emotionalen Intelligenz (EQ) achten. Wir neigen dazu, zu ignorieren, was die Geschichte uns gelehrt hat, blicken herab auf »Soft Skills« und Themen wie Philosophie, Soziologie und Literatur, weil sie keinen lösungsorientierten Ansatz bieten (zumindest in unseren Augen), und ja, jagen auch manchmal eher dem Geld hinterher als dem Wohlergehen der Menschheit. Allzu oft akzeptieren wir den Gedanken, dass das durch unsere Innovationen verursachte Leid der Menschen der Preis für den Fortschritt sei – statt im Vorfeld lange und gründlich darüber nachzudenken, wie die negativen Auswirkungen gänzlich vermieden werden könnten. Dieser unerschütterliche Glauben an die digitale Technologie, diese Blindheit gegenüber den enormen gesellschaftlichen Kosten im Namen der »Vision« und diese Gier sind verantwortlich für die von vielen unserer Unternehmen entwickelten Produkte. Sie nutzen die Schwächen der Menschen und unterwerfen sie der digitalen Technologie, was das Gegenteil von dem ist, was die meisten von uns beabsichtigten.
An dieser Stelle möchte ich festhalten, dass ich im Großen und Ganzen eine unerschütterliche Optimistin bin. Der technologische Fortschritt hat nahezu auf alle Bereiche positive Auswirkungen: auf unsere Art zu leben, zu arbeiten und unsere Freizeit zu verbringen. Dank maschineller Intelligenz stehen wir vor einer neuen Ära medizinischer Durchbrüche, selbstfahrende Fahrzeuge werden unsere Straßen sicherer machen (auch wenn sie andere Schäden verursachen), die Umweltverschmutzung wird geringer und Städte werden effizienter genutzt werden. Raumfahrt wird keine Science-Fiction mehr sein und allmählich wird der Mensch aufhören, monotone, entwürdigende und körperlich anstrengende Arbeiten selbst zu erledigen.
Allerdings haben digitale Technologien auch die Büchse der Pandora geöffnet - mit verheerenden Nebenwirkungen: Desinformation, Hass und Mobbing, katastrophale Verletzungen der Privatsphäre, durch die »Gig economy« entfesselte disruptive Zerstörungen, monopolistische Repressionen und mehr. Tech-Giganten wie Facebook, Apple, Google, Amazon, Alibaba, Uber, YouTube, Twitter, Airbnb und eine Handvoll anderer Einhörner stehen an einem Scheideweg, denn Nutzer blicken zunehmend besorgt auf diese Dinge. Verursachen sie weiterhin Chaos und übernehmen sie weiterhin keine moralische Verantwortung im unerbittlichen Streben nach Größe? Oder wagen sie einen Neustart und stellen Ethik und Empathie – definiert von einem britischen Unternehmen als »den emotionalen Einfluss eines Unternehmens auf sein Umfeld, Mitarbeiter und Kunden, sowie die Gesellschaft im Ganzen« – in den Mittelpunkt ihres Handelns?1
Während ich dies hier schreibe und COVID-19 einen großen Teil des Planeten in den Lockdown stürzt – und Amerika als eines der Coronavirus-Epizentren der Welt genannt wird –, offenbart sich das Beste und das Schlechteste der Tech-Branche zugleich. Einerseits wäre das Leben definitiv viel mühsamer ohne Amazon, das uns das Nötigste direkt vor die Haustür legt, ohne Zoom und Skype, um mit unseren Kollegen und Familien zu sprechen, und ohne Netflix für das Streamen von Fernsehprogrammen und Filmen. Andererseits konnte sich innerhalb weniger Minuten eine Flut an Fehlinformationen und manchmal auch gefährlichen Lügen über das Virus per Twitter, Facebook, YouTube etc. rund um den Globus ausbreiten. Einmal mehr offenbarte sich das existenzielle Risiko für Zusteller und Lagerarbeiter, die keinen angemessenen sozialen Schutz genießen und gezwungenermaßen ihre Jobs weiter machen mussten. Sie setzen ihr Leben aufs Spiel – um Essen auf den Tisch zu bringen.
Ich habe Niedergetrampelt von Einhörnern geschrieben, um all dies aufzudecken und aus meinem Blickwinkel darzulegen, wie viele der bekannten Branchenriesen moralische Grundsätze beiseitegeschoben und ihre ursprünglichen Ideale aufgegeben haben – als Preis für immer neue Innovationssprünge. Stattdessen haben sie Produkte entwickelt, ohne auf deren Auswirkung auf den Einzelnen und noch weniger auf deren soziale Konsequenzen zu achten. Niemand erwartet von Innovatoren, dass sie perfekt sind. Wenn man etwas Neues macht, macht man unweigerlich Fehler, auch große. Diese Unternehmen verschwiegen ihre Fehler jedoch oft und hörten auf, Fragen zu stellen, deren Beantwortung zu kompliziert oder unbequem war.
Basierend auf den Erfahrungen meiner Reise in wachstumsstarken Tech-Unternehmen quer durch Europa, Russland, Asien und den USA stellt dieses Buch meine persönliche Sicht auf die Fehlentwicklungen der Branchenriesen dar – diesem exklusiven Club aus Tech-Einhörnern, Dekahörnern, Hektohörnern und mittlerweile Billionen-Dollar schweren Unternehmen (für diese neuen Tierchen muss erst noch ein Name gefunden werden). Es sind Unternehmen, die zunehmend eine marktbeherrschende Rolle in ihrer jeweiligen Branche einnehmen. Und ich beschreibe aus meiner Sicht, warum unzählige der 47122 Einhörner der Welt (zum Zeitpunkt des Schreibens) – Tech-Konzerne mit jeweils einem Wert von über 1 Milliarde US-Dollar – jetzt in einem Kreuzfeuer der Kritik stehen, das sie selbst verursacht haben. Ich werde den Anfängen und den Auswirkungen dessen auf den Grund gehen, was ich als »Empathie-Defizit« der Tech-Branche bezeichne, und darlegen, dass viele der angesehensten Gründer und Unternehmer einige der wichtigsten Persönlichkeitsmerkmale mit Psychopathen teilen.3
Der erste Teil dieses Buches ist eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation und beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie es soweit kommen konnte. Einiges davon wird Ihnen äußerst vertraut vorkommen, insbesondere wenn Sie selbst einige Jahre in der Tech-Branche gearbeitet haben. Dennoch war ich bei der Recherche zu diesem Buch verblüfft über das Ausmaß und die Tiefe der Probleme meiner Branche – vor allem, als ich sie alle aneinanderreihte. Über die Anzahl der unausgesprochenen Zugeständnisse, die gemacht wurden und immer