Sri Aurobindo
Man sollte den Kindern helfen, zu geraden, offenen, aufrechten und ehrenwerten Menschen zu werden, die bereit sind, in die göttliche Natur hineinzuwachsen. — Sri Aurobindo
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Kapitel 1
Das Kind – Eine Seele, zum Wachsen bestimmt
Worte Sri Aurobindos
Im alten patriarchalischen System war das Kind lebendiges Eigentum des Vaters. Es war seine Schöpfung, sein Erzeugnis, die Reproduktion seiner selbst. Eher als Gott, oder das universale Leben anstelle Gottes, war es der Vater, der als Urheber der Existenz des Kindes galt; und der Schöpfer hat alle Rechte über seine Schöpfung, der Produzent über seine Produkte. Er besaß das Recht, aus ihm zu machen, was er wollte, und nicht das, was das Wesen des Kindes im Inneren wirklich war. Er konnte es entsprechend den elterlichen Vorstellungen ausbilden und formen und modellieren und brauchte es nicht entsprechend den tiefsten Erfordernissen seiner eigenen Natur großzuziehen. Er konnte es an den väterlichen oder den vom Vater gewählten Beruf binden, und brauchte nicht jenen für das Kind zu wählen, auf welchen dessen Natur und Befähigung hinwiesen. Er konnte ihm für alle kritischen Wendepunkte seines Lebens, selbst nachdem es Reife erlangt hatte, eine feste Richtung vorgeben. In der Erziehung wurde das Kind nicht als eine Seele betrachtet, die zum Wachsen bestimmt ist, sondern als grobes psychologisches Material, das vom Lehrer in eine feste Form zu bringen war. Wir sind zu einem anderen Konzept des Kindes gelangt und betrachten es als Seele mit einem eigenen Wesen, einer eigenen Natur und eigenen Fähigkeiten, dem wir helfen müssen, diese zu entdecken, sich selbst zu finden, zu ihrer Reife zu gelangen, in eine Fülle physischer und vitaler Energie und in die äußerste Weite, Tiefe und Höhe seines emotionalen, intellektuellen und spirituellen Wesens hineinzuwachsen.
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Kapitel 2
Vorgeburtliche Erziehung
Worte der Mutter
Zu den Frauen Japans über Kinder zu sprechen, das heißt wohl, ein Thema zu behandeln, das ihnen das liebste und heiligste ist. In keinem anderen Land der Welt haben Kinder einen so wichtigen, so zentralen Rang eingenommen. Sie stehen hier im Mittelpunkt aufmerksamer Zuwendung. Auf ihnen ruhen – zu Recht – die Hoffnungen für die Zukunft. Sie sind das lebendige Versprechen wachsenden Wohlstandes für das Land. So ist die wichtigste Aufgabe, die den Frauen in Japan zufällt, Kindern Geburt zu schenken. Mutterschaft wird als die Hauptrolle der Frau angesehen. Doch dies ist nur solange wahr, wie wir verstehen, was mit dem Wort Mutterschaft gemeint ist. Denn Kinder zur Welt zu bringen, wie Kaninchen es mit ihren Jungen tun – instinktiv, unwissend, mechanisch, das kann man sicher nicht Mutterschaft nennen! Wahre Mutterschaft beginnt mit der bewussten Schöpfung eines Wesens, mit dem bewusst gewollten Formen einer Seele, die kommt, um einen neuen Körper zu entwickeln und zu gebrauchen. Die wahre Domäne der Frau ist das Spirituelle. Wir vergessen das nur allzu oft.
Ein Kind zu tragen und seinen Körper fast unbewusst heranzubilden, genügt nicht. Wirklich beginnt das Werk erst, wenn wir kraft des Denkens und Willens einen Charakter konzipieren und schaffen, der fähig ist, ein Ideal zu verkörpern.
Und wir sollten nicht sagen, dass wir nicht die Kraft haben, dies zu verwirklichen. Zahllose Beispiele dieser sehr wirksamen Kraft könnten als Beweis angeführt werden.
Die Einwirkung der physischen Umwelt wurde bereits vor langer Zeit begriffen und studiert. Die alten Griechen bildeten schrittweise die außergewöhnlich harmonische Rasse heran, die sie waren, indem sie ihre Frauen mit Kunst und Schönheit umgaben.
Es gibt zahlreiche individuelle Beispiele für diese Tatsache. Nicht selten findet man eine Frau, die während der Schwangerschaft ständig ein schönes Bild oder eine Figur betrachtete und bewunderte, und dann ein Kind zur Welt brachte, das diesem Bild oder dieser Figur perfekt glich. Ich habe persönlich solche Fälle gesehen. Ich erinnere mich sehr deutlich an zwei kleine Mädchen; es waren Zwillinge, und sie waren bildschön. Doch am erstaunlichsten war, wie wenig sie ihren Eltern glichen. Sie erinnerten mich an ein bekanntes Bild des englischen Malers Reynolds. Einmal erwähnte ich dies gegenüber ihrer Mutter, die gleich ausrief: „Ja, ist das nicht wahr? Es wird sicher für Sie von Interesse sein zu erfahren, dass ich, während ich diese Kinder erwartete, über meinem Bett eine sehr gute Reproduktion eines Bildes von Reynolds hatte. Bevor ich einschlief, und sobald ich aufwachte, galt mein letzter und mein erster Blick diesem Bild; und innerlich hoffte ich, dass meine Kinder Gesichter hätten wie auf diesem Bild. Sie sehen, es ist mir recht gut gelungen!“ Sicher konnte sie stolz auf ihren Erfolg sein, und ihr Beispiel ist von großem Nutzen für andere Frauen.
Wenn wir aber solche Resultate auf der physischen Ebene erzielen können, wo die Materialien am wenigsten plastisch sind, wie viel mehr dann auf der psychologischen Ebene, wo der Einfluss des Denkens und Willens so stark ist. Warum die obskuren Bande der Vererbung und des Atavismus akzeptieren – was nichts anderes ist als eine unterbewusste Vorliebe für unsere eigene Charakterneigung –, wenn wir mit Hilfe von Konzentration und Willenskraft einen Typus heranbilden können, der nach dem höchsten Ideal geformt ist, dessen wir fähig sind? Wenn wir in dieser Richtung eine Bemühung machen, wird die Mutterschaft wahrhaft wertvoll und geweiht; dadurch treten wir ein in die Arbeitssphäre des Geistes, und das Frausein geht hinaus über die Ebene des Tierischen und seine gewöhnlichen Instinkte, bewegt sich hin auf wirkliches Menschsein und dessen Kräfte.
In dieser Bemühung, in diesem Versuch, liegt dann also unsere wahre Pflicht. Und wenn dies immer schon von größter Bedeutung war, so hat es nun in der gegenwärtigen Erd-Evolution sicher eine entscheidende Bedeutung angenommen.
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Worte der Mutter
Die Erziehung eines Menschen sollte bei seiner Geburt beginnen und sein ganzes Leben andauern.
Wenn wir wollen, dass diese Erziehung ihr maximales Resultat erzielt, sollte sie schon vor der Geburt beginnen. In diesem Fall ist es die Mutter selbst, die mittels einer zweifachen Tätigkeit mit dieser Erziehung beginnt: Erstens, bezüglich ihrer selbst, zu ihrem eigenen Fortschritt, und zweitens, bezüglich des Kindes, das sie physisch heranbildet. Denn es steht fest, dass die Natur des Kindes, das geboren werden wird, sehr von der Mutter abhängt, die es heranbildet, von ihrem Streben und ihrer Sehnsucht und ihrem Willen ebenso wie von der materiellen Umwelt, in der sie lebt. Darauf zu achten, dass ihre Gedanken stets schön und rein sind, ihre Gefühle stets edel und verfeinert, ihre materielle Umwelt so harmonisch wie möglich und voller Schlichtheit dies ist der Teil der Erziehung, den die Mutter für sich selbst durchführen sollte. Und wenn sie darüber hinaus einen bewussten und entschlossenen Willen hat, das Kind nach dem höchsten Ideal zu formen, das sie sich ausmalen kann, dann werden die besten Bedingungen eintreten, so dass das Kind mit seinen höchsten Möglichkeiten zur Welt kommen kann. Wie viele schwierige und nutzlose Komplikationen könnten auf diese Weise vermieden werden!
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Kapitel 3
Ein Kind zu erziehen,
heißt sich selbst zu erziehen
Worte der Mutter
Die meisten Eltern machen sich aus verschiedenen Gründen sehr wenig Gedanken über die wahre Erziehung, die den Kindern zuteil werden sollte. Wenn sie ein Kind in die Welt gesetzt haben, es mit Nahrung versorgt, seine verschiedenen materiellen Erfordernisse befriedigt und seine Gesundheit mehr oder minder sorgsam bewahrt haben, meinen sie, dass sie ganz und gar ihre Pflicht getan haben. Später werden sie es auf die Schule schicken und den Lehrern die Verantwortung für seine Erziehung überlassen.
Es gibt andere Eltern, die wissen, dass ihre Kinder erzogen werden müssen und die versuchen, ihr möglichstes zu tun. Doch selbst von jenen, die sehr ernsthaft und aufrichtig