halber sei noch erwähnt, dass sie in den folgenden Jahren den Beruf der Buchhalterin erlernte.
Und hier endet die merkwürdige Geschichte, denn man schrieb mittlerweile das Jahr 1932.
Wie schon erwähnt, war Vater Salomon ein sehr kluger und weitsichtiger Mann. Viele seiner Glaubensbrüder konnten sich nicht vorstellen, welches Schicksal wenige Jahre später über sie hereinbrechen sollte, Vater Salomon schon. Mit dem Kauf des Hauses für Marlene hatte er sein letztes Geld ausgegeben. Die Fertigungsateliers waren bereits verkauft, der Erlös in die USA transferiert und im Herbst des letzten Jahres der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland verließ die gesamte Familie Salomon ihre Heimat.
Marlene arbeitete für einige Zeit in einem größeren Leeraner Industrieunternehmen. Als ihr jedoch der Hauptbuchhalter in sehr unangenehmer Weise zu nahe kam, ergriff sie die Flucht. Sie kam auf die Idee, kleineren Firmen, oftmals Familienbetrieben, die sich keine eigene Buchhalterin leisten konnten, ihre Tätigkeit tageweise anzubieten. Zunächst waren ihre potenziellen Kunden wenig erbaut, befürchteten sie doch das Entstehen gewisser Interessenskonflikte. Dieses Problem löste Marlene auf einfache Art. Sie arbeitete niemals für zwei Firmen in derselben Branche gleichzeitig, legte außerdem die Namen ihrer Auftraggeber jeweils offen und hielt sich strikt an ihre selbst auferlegte Schweigepflicht. Mögliche Probleme brauchte daher keiner zu fürchten, da sie auf diese Weise gar nicht erst entstanden.
Im Übrigen mochte Marlene, diese aparte Erscheinung mit ihren feinen Gesichtszügen und langen dunkelbraunen Haaren, mit Männern nichts mehr zu tun haben. Sie kleidete sich fortan sehr unvorteilhaft und band ihre Haarpracht zu einem strengen Dutt. Zeit ihres Lebens bestand sie darauf, als Fräulein angesprochen zu werden.
Marlene Degenhardt wird in dieser Erzählung noch bei zwei eigenwilligen, den jeweiligen Zeitgeist geradezu karikierenden Ereignissen eine Rolle spielen.
3 – Wotans Mickymaus
Im November 1928 erschien der erste Micky-Maus-Film unter dem Titel »Steamboat Willie« in den US-Kinos. Im Jahre 1930 kam der Streifen über den Atlantik und wurde auch in Deutschland schnell populär. Hier entwickelte sich eine besondere Version der Trickfilmfigur, die im folgenden Kapitel eine Rolle spielen wird.
*
Rheidersum, Mittwoch, 15. Mai 1935
Die mechanische Türglocke läutete Sturm, unterbrochen nur von einem Hämmern gegen die Haustür, gefolgt von verzweifelten Rufen, und das morgens um halb sechs. Ilse Feenders lief zur Tür, öffnete sie und wurde fast umgerannt. Marga Strodthoff, ihre Schwägerin, stürzte in den Flur, zitternd am ganzen Körper, weinend, völlig aufgelöst.
»Marga, was ist mit dir, was ist passiert?«
»Sie haben ihn abgeholt. Wo ist mein Bruder? Er muss helfen!«, stieß sie hervor.
»Helfried ist noch im Stall beim Melken. Und wer hat wen abgeholt?«
»Theo haben sie gerade geholt! Die Gestapo!«
»Warum? Moment eben!« Mit lauter Stimme rief Ilse Feenders: »Lilli, hol Papa aus dem Stall. Es ist etwas passiert. Er soll schnell kommen!«
Elisabeth, die fünfzehnjährige Tochter, hastete die Treppe herunter, lief durch den langen Flur, riss die Tür auf und verschwand in der Diele, die in den angrenzenden Stall führte.
Keine Minute später stand Helfried Feenders vor seiner von Weinkrämpfen geschüttelten Schwester: »Marga, nun komm. Wir gehn jetzt in die Stube, da vertellst du uns alles!« Er schob sie zum Sofa, drückte sie auf die Polster und setzte sich neben sie: »Was ist passiert?«
Marga antwortete schluchzend und stoßweise: »Die – Gestapo – hat – Theo – abgeholt!«
»Warum? Haben sie etwas gesagt?«
»Nee, das würde er schon auf der Dienststelle erfahren!«
Ilse Feenders drückte ihrer Schwägerin ein Glas Korn in die Hand: »Trink das, damit du wieder beikommst!«
Helfried ergriff das Glas und führte es seiner Schwester zum Mund.
»Bah, Schnaps am frühen Morgen!«
»Wenn die Gestapo kommt, reicht ’ne ganze Buddel nicht!«, entgegnete Helfried. »Mal ehrlich, hat Theo vielleicht den Schnabel wieder zu weit aufgemacht?«
»Du meinst …?«
»Ich weiß es nicht, ist nur so ’ne Vermutung. Was er von den Braunen hält, hat er ja oft genug gesagt.«
»Was machen wir denn nun? Ich muss doch wissen, was mit ihm ist!«
»Bei der Gestapo nachfragen? Das macht keiner, Marga! Und die Schupos wissen meist nicht, was die Ledermäntel treiben.«
»Aber ich muss doch …«
»Ganz ruhig, Marga. Lass mich eben ’n Moment überlegen … Erinnerst du dich noch an den alten Kriminalrat Tammen aus Leer?«
»Das war doch der, der Berend die Mane als den Mörder der kleinen Gesa Hellmann überführt hat!«
»Genau der!«
»Tammen ist aber nicht mehr im Dienst.«
»Egal, wenn hier einer helfen kann, dann er! Und dass er nicht mehr im Dienst ist, kann sogar von Vorteil sein. Denn unserem Dorfpolizisten möchte ich mit der Bitte nicht kommen. Aber der weiß vielleicht, wo Tammen wohnt.«
Kriminalrat Tammen war in seiner Dienstzeit eine Kapazität auf seinem Gebiet gewesen, in den Kreisen seiner Kundschaft geachtet und gefürchtet zugleich. Bekannt wurde er durch seine rasche Ermittlungsarbeit und sein Verhalten in dem bereits erwähnten Mordfall, der sich im Frühjahr 1930 nahe dem sonst so friedlichen Ort Rheidersum zugetragen hatte. Die zehnjährige Gesa Hellmann, Tochter des Dorfschullehrers, war abends nicht nach Hause gekommen. Ein eilig zusammengetrommelter Suchtrupp fand kurz darauf ihre entsetzlich zugerichtete Leiche an einem Weg nahe der Bahnstrecke zwischen Leer und Emden. Das Kind war missbraucht und mit einem großen harten Gegenstand erschlagen worden. Recht bald geriet der jugendliche Berend de Buhr ins Visier des Kriminalrats. Berend war von Geburt an schwachsinnig, galt aber als harmlos. Seinen Beinamen »die Mane« hatte der Junge erworben, als er eines Abends auf die untergehende Sonne deutete und sagte: »Dat is die Mane!«, was so viel heißen sollte wie: »Das ist der Mond!«
Lehrer Hellmann hatte sich sehr um den Jungen bemüht, letztlich aber keinen Erfolg gehabt. Selbst einfachste Rechenaufgaben, mit Knöpfen dargestellt, konnte der Junge nicht verstehen. Er starrte nur fasziniert auf die Knöpfe und stotterte: »Dat is ja ’n heel anner Knoob!«2
Danach gab der Lehrer auf. Entgangen war ihm jedoch, dass der in die Pubertät gekommene Berend ein gewisses ungutes Interesse an seiner Tochter, der kleinen Gesa, entwickelte. Dies endete schließlich in der Katastrophe.
Tammen, der im Umfeld der Lehrersfamilie genauestens recherchierte, stieß auf Berend de Buhr. Er fand sich in die eigenartige Sprache des Jungen, der ihm schließlich den ganzen Hergang erzählte, inklusive des Wissens, das nur der Täter haben konnte. Den Stein, mit dem Gesa erschlagen worden war, fand man unter seinem Bett.
Als Berend de Buhr von Polizeibeamten abgeführt werden sollte, stürzte der Lehrer Hellmann, mit einer Axt bewaffnet, wie von Sinnen auf den Mörder seiner Tochter los. Kriminalrat Tammen trat ihm in den Weg, hob nur die Hände ein wenig und sagte ruhig: »Das wirst du nicht tun, Hellmann. Und auf mich gehst du ja schon gar nicht los.«
Die beiden Schupos, die bereits ihre Pistolen gezogen hatten, brauchten nicht mehr einzugreifen. Tammen nahm dem Lehrer, der wie erstarrt stehen geblieben war, die Axt aus den Händen. Hellmann brach weinend zusammen. Vom Kriminalrat mühsam wieder aufgerichtet, wurde er zum Haus des Pastors gebracht, der sich weiter um ihn kümmerte.
Kriminalrat Otto Tammen hatte noch eine andere Seite, die wenig später zutage trat. Mit den braunen Flegeln, wie er sie gelegentlich zu nennen pflegte, konnte er rein gar nichts anfangen. Vor der Machtergreifung