Estrellas Azules, die es an jeder Straßenecke zu kaufen gab. Die Estrellas und die Brille halfen ihm, die demütigende Arbeit und das Arschloch Luiz zu überstehen.
Zähneknirschend setzte er einen selbsthaftenden Reinigungsbot auf die Fensterscheibe und schob dann seinen Versorgungswagen weiter durch die Flure. Hin und wieder näherte sich ein Bot, und je nachdem leerte er den Schmutzbehälter, füllte Reinigungsflüssigkeiten und Wasser nach oder tauschte den leeren Akku gegen einen vollen aus. Er war ein Botgehilfe, und das schmeckte ihm gar nicht. Nach einer Weile, als er sicher war, dass Luiz sich nicht in der Nähe befand, setzte er wieder die Brille auf.
2
Zweitausendsechshundert Delegierte hatten sich in Brasilia versammelt, der von Oscar Niemeyer erbauten, einst so futuristischen Stadt, die jetzt gegen den Verfall ankämpfte und nur noch auf eine Zukunft verwies, die niemals eingetroffen war. Im Schutz der größten Kuppel der Welt, die gestützt wurde von hundertdreiundfünfzig gigantischen Säulen mit integrierten Kühlaggregaten und Luftumwälzern, berieten die Vertreter von hundertsechzehn Ländern über das Vorgehen gegen die Aufheizung der Atmosphäre. Im Gegensatz zu Niemeyers Vision von einer sozialistischen Gesellschaft war diese seit Langem bittere Realität. Der globale Temperaturanstieg seit Beginn der Industrialisierung betrug zwei Komma neun Grad Celsius. Alle Abkommen und Versprechen, den Anstieg zu begrenzen, waren gebrochen worden. Immer mehr Hitzezonen wurden für unbewohnbar erklärt, und entsprechend hitzig entwickelte sich die Debatte.
Auf eine Vertreterin der USA folgte Jorge Ramos, ein Sprecher der Solarier. Er präsentierte Sonnenfotos einer chilenischen, von Brasilien finanzierten Sternwarte. Zu sehen waren gigantische Flecken, gewaltige Protuberanzen und violett leuchtende Teilchenströme. Unter den Buhrufen eines großen Teils des Publikums wiederholte er stoisch die Standardbehauptung der Solarier, die Erderwärmung sei ausschließlich auf Anomalien der Sonne zurückzuführen und somit menschlicher Einflussnahme grundsätzlich entzogen.
»Fake Facts!«, wurde gerufen. Einige Wissenschaftler schwenkten Diagramme, die angeblich belegten, dass die Sonnenaktivität im Rahmen des Üblichen verlaufe. Eine Sprecherin des Grünen Blocks stürmte aufs Podium. Mit ihren dunkelblonden Zöpfen wirkte sie wie eine Wiedergängerin der aus der Öffentlichkeit verschwundenen Greta Thunberg, die insbesondere bei den europäischen Grünen Heiligenstatus genoss. Emilia Lacone, ihre derzeitige Reinkarnation, versetzte Ruiz Ramon geschickt einen Rempler und nahm seinen Platz am Mikrofon ein. »Schamlose Lügen!«, rief sie mit sich überschlagender Stimme. »Jedes Kind kann erkennen, dass die Fotos Fälschungen sind! Aber der Klimawandel ist menschengemacht und eine unmittelbare Folge der steigenden CO2-Konzentration – auch das weiß jedes Kind! Hätten nicht notorische Faktenverdreher wie Jorge Ramos und korrupte Politiker in aller Welt aus eigennützigen Motiven heraus die notwendigen Maßnahmen zur Herstellung eines klimaneutralen Wirtschaftens torpediert, wäre es jetzt vielleicht noch fünf vor zwölf. Aber es ist schon zwanzig nach zwölf, ach was, der Uhrzeiger steht kurz vor eins …«
Das war natürlich Wasser auf die Mühlen der Antinatalisten, die sich mit Wirtschaftssteuerung und technologischer Erneuerung nicht lange aufhielten. Für sie war nicht die Wirtschaftsweise, sondern der wirtschaftende Mensch die Wurzel allen Klimaübels, dem sie durch die konsequente Verweigerung der Fortpflanzung beizukommen gedachten. Seit dreißig Jahren hofften ihre Gegner, ihr Aussterben, eigentlich die logische Folge ihrer menschheitsverachtenden Ideologie, werde die politische Auseinandersetzung mit ihnen irgendwann überflüssig machen, doch seltsamerweise war der Nachschub an Anhängern scheinbar unerschöpflich. Speziell die jungen Leute fanden an der kruden Fortpflanzungsverweigerung der Antinatalisten Gefallen. Straff organisiert in diversen NGOs, stellten sie einen nicht unerheblichen Anteil der Delegierten. Enthusiasmiert durch die vernichtende Zeitansage der Grünen-Vertreterin, sprangen sie auf, kletterten auf ihre Sitze und skandierten: »Yes Love – no Children! Yes Love – no Children!« Die meisten sahen nicht nur aus wie Kinder – sie waren welche. Ihre älteren Sitznachbarn bemühten sich, sie, wenn nicht auf den Boden der Tatsachen, so doch auf den Boden der Kongresshalle hinunterzuziehen, doch die Kinder wehrten sich verbissen. Die Saalwache marschierte auf. Aus dem Off tönte die Stimme der Kongress-AI: »Die Sitzung ist unterbrochen!«, säuselte sie. »Bitte räumen Sie den Saal!«
3
Roboter waren praktisch und vielseitig, doch es gab Dinge, die sie überforderten. Manchmal waren es gerade die einfachen Herausforderungen, an denen sie scheiterten, und dazu gehörten auch die geschwungenen, ansteigenden Sitzreihen des Kongresssaals. Und deshalb sammelte jetzt Pedro den Dreck auf, den die Delegierten zurückgelassen hatten. Leere Wasserflaschen, In-Ears, ein einzelner Schuh, sogar ein Gebiss: Alles kam in den blauen Sack, dessen Inhalt irgendjemand sortieren würde, bevor er in die Müllverbrennungsanlage kam, oder auch nicht.
Es war fünf nach halb elf, außer ihm hielt sich niemand mehr im Saal auf. Doch als Nachhall der Stimmen verweilte noch ein irritierendes, insektenhaftes Gesumm, und auch die Gerüche, süßlich, schweflig, modrig, alienhaft, waren noch wahrnehmbar. Er trug wieder die Brille, was zur Folge hatte, dass ein Teil der Hinterlassenschaften ein widerliches Eigenleben entwickelte. Da gab es dicke blaue Würmer, die sich auf dem Teppichbelag ringelten, und graue Fladen, die sich mehr fließend als kriechend fortbewegten. Der Zettel aber, den er vom Boden aufhob, war aus Papier, und die Handschrift war deutlich zu lesen: RITA flies at 5 p.m. Er konnte ein bisschen Englisch, die Übersetzung war kein Problem: Rita fliegt um siebzehn Uhr. Dennoch schob er die Brille hoch und besah sich den Zettel genauer. Irgendetwas stimmte nicht damit. Er hatte zwei, drei Muntermacher geschluckt, denn er arbeitete eine Doppelschicht ab. Die Buchstaben waberten vor seinen Augen, die Umrisse sah er doppelt, dreifach … vierfach? Schwer zu sagen. Doch das war es nicht. Plötzlich machte es bei ihm Klick. Rita war großgeschrieben: RITA. Das war nicht der Name irgendeiner Delegierten, die morgen Nachmittag vorzeitig abreisen wollte. Das war eine Abkürzung.
Augenblicklich begannen Glücksräder in seinem Kopf, zu kreisen. Es waren die gleichen wie in den Automatenbuden, wo viele Arbeiter, benommen von der unmenschlichen Schwüle der unklimatisierten Außensiedlung, ihr Geld verspielten. Anstelle der bunten Früchte und megabusigen Weiber standen Worte drauf. Als sie zum Stillstand kamen, war klar, was die Abkürzung bedeutete: Rocket Integrated Target Annihilation – RITA.
Rocket bedeutete Rakete, und Annihilation Vernichtung. Also ein Attentat. Jemand plante einen Vernichtungsschlag, der logischerweise am letzten Sitzungstag stattfinden würde, also in vier Tagen, und Pedro war möglicherweise der einzige Außenstehende, der davon wusste – vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der die drohende Katastrophe verhindern konnte.
In dieser Nacht fand er keinen Schlaf, was nicht nur an der Hitze lag. Vor Aufregung verwechselte er die Pillen und schluckte statt des Schlafmittels zwei weitere Estrellas. So kam es, dass er mit großen, brennenden Augen in die Dunkelheit seiner überhitzten Behausung starrte, während sich die Möglichkeiten durch seinen Kopf wälzten wie grüne, rote und blaue Dschungelschlangen. Schließlich stand er auf und bestieg den Schwebetransporter, ohne gefrühstückt zu haben. Als er pünktlich fünf vor acht seine erste Schicht antrat, herrschte schon vor dem Kongressaal helle Aufregung. Überall wurde aufgeregt diskutiert. Sein Körper hatte sich in eine sensible Antenne verwandelt. Er fing die Erregung auf und verstärkte sie. Das Blut summte ihm in den Ohren, Blitze durchzuckten sein Gesichtsfeld. Auf dem Weg zum Serviceeingang schnappte er auf, dass die Chinesen für den letzten Sitzungstag, an dem die Abschlusserklärung verabschiedet werden sollte, eine bedeutende Erklärung angekündigt hatten.
Natürlich, die Chinesen. Er wusste nicht, in welcher Beziehung das Raketenattentat mit der Ankündigung stand, aber der Zusammenhang lag auf der Hand. Es konnte kein Zufall sein. Die Schicksalslinien hatten sich verknotet, und er steckte mittendrin. Doch wem sollte er sein Geheimnis anvertrauen? Der Polizei? Es gab kaum Polizei auf dem Gelände. Stattdessen patrouillierten sogenannte Friedenswächter, aus China importierte AnBots. Ob sie ihn überhaupt verstehen würden? Zunächst aber musste er sich umziehen.
»He, Pedro, du Arschloch!«, rief Luiz, als er die Ankleide betrat. Die Arme vor der Tonnenbrust verschränkt, grinste der Vorarbeiter ihm entgegen. »Schon gepinkelt heute?«
»Si,