klassischen Kanon gegen „quell’oscenità televisiva“ verteidigt (Lusio: Kαι σ 'αγαπώ… [Und ich liebe dich…], EFP, 30.12.2014, Kommentar: 11.03.2015).
In der Fanfiction ergänzt den ‚Canon‘ – als „the collection of texts considered to be the authoritative source for fan creations“ (Busse 2017: 101) seinerseits ein Konstrukt – der damit dynamisch interagierende ‚Fanon‘, der nachträglich fan-kanonisierte Elemente der Handlung, Figurencharakteristik etc. umfasst: So entsteht das heute etablierte Bild Sherlock Holmes’ – mit Deerstalker-Mütze, Inverness-Mantel, Pfeife und einem souveränen ‚Elementary!‘ auf den Lippen – erst im Zuge der Bearbeitungsgeschichte von Conan Doyles Werk.
Unter AU (Alternate Universe) finden sich Fanfics, die von der kanonischen Diegese des Ausgangstextes abweichen, z. B. die Figuren beibehalten, diese aber in einen anderen historischen oder kulturellen Kontext versetzen. So etwa, wenn die Autorin einer „Aeneid High School AU“ Vergils als „a former team captain of the Trojan High football team“ reinkarnierten Helden auf die Suche nach einer neuen Heimstatt schickt, nachdem seine Schule „by the deceitful Greek football team“ in Brand gesetzt wurde (puppo530: AENEID HIGH, AO3, 13.03.2016); oder auch, wenn „Elissa Dido, Captain of the Carthage“ im Rahmen eines „space!AU“ ins Weltall reist und ebendort voll intermedialer Ironie den „stories of daring adventure and perilous travel“ des geflüchteten „Captain Aeneas“ lauscht: „There might […] be quite a profitable career for him on some planet where they liked that sort of thing. A weekly holovid show, perhaps, or a series of movies“ (misura: Trouble Any Which Way, AO3, 05.05.2013).
Bei aller gelegentlichen Naivität handelt es sich hier um ein komplexes literarisches System mit seiner eigenen Poetik, Publikations- und Rezeptionsetikette, inklusive standardisierter Triggerwarnungen (Major Character Death, Graphic Depictions of Violence, Underage, Rape/Non-Con). Stories werden nach Fandoms kategorisiert, neben den drei Hauptrubriken Gen (General Audience, d. h. ohne speziellen amourös-erotischen Fokus), Het und Slash konkret nach Beziehungskonstellationen (Pairings), sexueller Explizitheit samt korrespondierenden Altersgruppen; thematisch nach dem Grad der Übereinstimmung mit dem Ausgangswerk (Canon, AU) und Subgenres wie Angst, Drama, Fluff (d. h. leichte Wohlfühl-Happyfic), Humor, Hurt/Comfort, Romance; formal nach ihrer Machart (Crossover, Songfic etc.) und Länge: Beliebt sind Kurzformen wie Drabbles (Texte von exakt 100 Wörtern, praktiziert auch als Double-, Triple- und Quad-Drabble), Vignettes, alternativ Flashfics oder Ficlets (üblicherweise bis ca. 1 000 Wörter), One-Shots bzw. Standalones (kurze, aus einem einzigen Kapitel bestehende Fics). Dergleichen funktioniert in der Fanfiction deshalb so gut, weil es sich hier um eine überaus voraussetzungsreiche, mit dem jeweiligen Kanon und Fanon bzw. dem „fan text“ – d. h. dem gesamten „discursive universe generated by the source text“ (Busse 2017: 107) – vertraute Leser*innen adressierende, allusiv ‚komprimierte‘ Form von Literatur (Stasi 2006: 122), ein zugleich populäres und hochgradig palimpsestuöses Genre handelt.
Mit dieser plastischen Metapher des Palimpsests betitelt Genette sein Referenzwerk zur Transtextualität – kurz definiert alles, was einen Text „in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt“ (1993: 9); mit den Subkategorien u. a. der Intertextualität (Zitate, Allusionen oder auch Plagiate) und der Hypertextualität, bei der ein Text – der Hypertext – ein früheres Werk – den Hypotext – auf spielerische, satirische oder ernsthafte Weise transformiert oder imitiert. Auf der Odyssee als Hypotext basieren so unterschiedliche Hypertexte wie Vergils Aeneis und James Joyces Ulysses – sowie von allen drei Werken inspirierte Fanfics, in denen z. B. Joyces Homer-Hypertext seinerseits zum Hypotext und im Rahmen des einen oder anderen Crossover mit Shakespeares Hamlet (chaos_harmony: Aeolus, AO3, 14.03.2012), Sherlock (Kalypso: Ulysses Holmes, AO3, 16.06.2012) oder auch – With Deepest Apologies to James Joyce (lynnmonster, AO3, 31.03.2008) – mit Harry Potter kombiniert wird. Als hypertextuell generiertes Genre illustriert auch und gerade die Fanfiction, wie sehr ein Text zur Entfaltung der vollen „‚palimpsestuousness‘ of the experience“ (Hutcheon 2006: 172) der ko-kreativen Kompetenz der Leserin bedarf.
Am anderen Extrem der Fanfic-Skala finden sich Online-Epen, die zumindest quantitativ jederzeit mit Joyces voluminösem Roman rivalisieren können. Im Durchschnitt sind die in literarischen Fandoms publizierten Texte umfangreicher als jene in anderen Kategorien (Aragon/Davis 2019: 85); eine der bisher längsten Fanfictions beruht allerdings auf dem Nintendo-Computerspiel Super Smash Bros.: Die von einem US-Teenager mit mexikanischem Background verfasste Mega-Fic The Subspace Emissary’s Worlds Conquest (AuraChannelerChris, FFN, 05.03.2008) zählt bis zum letzten Update (12.06.2018) über vier Millionen Wörter und ist damit deutlich mehr als drei Mal so lang wie Marcel Prousts Romanzyklus À la recherche du temps perdu und mehr als sechs Mal so lang wie Lev Tolstojs Krieg und Frieden (Romano 2020b). Getoppt wurde dieses Monsterwerk von der ebenfalls auf einem Computerspiel – der japanischen Kantai Collection – basierenden Fic Ambience: A Fleet Symphony (Hieda no Akyuu, FFN, 09.05.2014; Update: 16.04.2019), die aktuell 443 Kapitel und über viereinhalb Millionen Wörter erreicht.
„Das ist eine Riesensache…“: Kartographie einer literarischen Parallelwelt
Auch wenn Fanfiction also kein neues Phänomen ist, ist ohne Weiteres nachvollziehbar, warum das Genre Anfang des 21. Jahrhunderts einen derartigen Aufschwung bzw. eine „véritable explosion“ (Saint-Gelais 2011: 408) erlebt. Mehr denn je präsentiert sich Fanfiction im digitalen Kontext als produktions- wie rezeptionsseitig besonders niedrigschwellige „Literatur von unten“ (Mauermann/Bendel 2012), als „demokratisches Genre“ (Pugh 2005) bzw. als paradigmatische Form „partizipatorischer Kultur“ – so Jenkins (1992), der mit seinen Textual Poachers das Forschungsfeld bis heute prägt. Im selben Jahr 1992 erscheinen neben Jenkins’ ‚Textwilderern‘ (die Metapher entlehnt der Autor bei Michel de Certeau) auch zwei andere Gründungswerke der Fan Fiction Studies, Bacon-Smiths Enterprising Women und Penleys „Feminism, Psychoanalysis, and the Study of Popular Culture“, wieder aufgegriffen in Nasa/Trek (1997).
Why Fanfiction Is Taking Over the World, titelt gut zwei Jahrzehnte später Jamison (2013). In der Tat hat diese literarische Parallelkultur – „the fastest-growing form of writing in the world“, wie Pugh (Backcover) bereits 2005 konstatiert – mittlerweile für noch im Hinblick auf einen traditionellen Buchmarkt sozialisierte Leser*innen verblüffende Dimensionen angenommen; populäre Fics schaffen es zu Reichweiten, von denen viele professionelle Autor*innen nur träumen können. „Haben Sie schon einmal von Fan Fiction gehört? Da nimmt man das Personal des Lieblingsbuches und schreibt mit ihm neue Geschichten oder setzt beim bestehenden Buch fort. Harry Potter zum Beispiel. […] Das ist eine Riesensache – und die Erwachsenenwelt weiß nichts davon. Meine 13-jährige Tochter […] hat mehr Leser als ich!“ – so Christoph Braendle, der über seinen Teenager-Nachwuchs die wunderbare Welt der Fanfiction entdeckt (Mayr/Mayr 2014).
Schon quantitativ ist Fanfiction fürwahr – heute noch mehr als im Jahr 2014 – eine „Riesensache“. Çam (2020) beziffert das aktuell online verfügbare Repertoire mit „50 million free fanfiction stories“; bereits früheren Schätzungen zufolge macht die ob ihrer Fluidität und permanenten Fluktuation kaum exakt zu kalkulierende Fanfiction ca. ein Drittel allen Contents „about books on the web“ aus (Kowalczyk 2014). Auf FanFiction.net (FFN), der 1998 gegründeten größten internationalen Plattform, sind – quer durch die neun Hauptkategorien Anime/Manga, Books, Cartoons, Comics, Games, Misc (Miscellaneous), Movies, Plays/Musicals und TV Shows – über zwölf Millionen registrierte User*innen in den unterschiedlichsten Fandoms aktiv, von Homer bis Harry Potter, von Vergil bis zu My Little Pony, dessen „Principessa“ im Rahmen einer weiteren Aeneis-Parodie auf EFP kokett den Unpaarhufer von Troja ersetzt (chiaraviolinista: Il Curioso Caso di Enea il Pio, 18.10.2011).
Der derzeit größte Fanfiction-Star ist aber natürlich der Zauberlehrling von Hogwarts: FFN verzeichnet per Ende November 2020 unter ‚Books: Harry Potter‘ rund 827 000 Stories. Mit großem Abstand folgen Twilight, Percy Jackson and the Olympians, Lord of the Rings, Hunger Games etc. – sowie relativ weit vorne mit Jane Austens