Thomas Thiemeyer

Nebra


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      Karl griff nach einem verschmierten Lappen und wischte sich die Hände ab, während er zur Tür ging. Er war noch nicht weit gekommen, als der Besucher von dem bockigen Tor offenbar die Nase voll hatte und es mit einem herzhaften Tritt öffnete. Es trat eine gutaussehende Frau ein, Mitte dreißig, mit breiten Schultern und kurzgeschnittenen Haaren. Sie trug eine schwarze Lederjacke, schwarze Jeans und schwarze Springerstiefel. Einzig ihr T-Shirt, auf dem The Cult zu lesen stand, leuchtete in knalligem Pink.

      Karl blieb wie angewurzelt stehen. Damit hatte er am wenigsten gerechnet. Ein Strahlen ging über sein Gesicht.

      »Cynthia?«

      Die Frau blickte auf seinen nackten, verschwitzten Oberkörper und erwiderte sein Lächeln. »Komme ich ungelegen?«

      »Ob …? Natürlich nicht.« Er pfefferte den Lappen in eine Ecke, eilte auf sie zu und schloss sie in seine Arme. Nach anfänglichem Zögern erwiderte sie die Umarmung. Beinahe eine Minute standen sie so da, engumschlungen. Er hätte nie für möglich gehalten, seine alte Freundin so bald schon wieder in die Arme schließen zu dürfen. Er fühlte ein leichtes Zittern ihrer Arme und meinte sogar ihren Herzschlag zu spüren. Als er sie wieder freigab und sie zu Atem kommen ließ, trat er einen Schritt zurück. »Lass dich anschauen, Cyn. Mein Gott, du siehst phantastisch aus.« Er verschwieg, wie gut sie sich anfühlte.

      Cynthia nahm das Kompliment mit einem Lächeln entgegen.

      »Was tust du hier?«, platzte er heraus. »Müsstest du nicht eigentlich …?«

      »… im Knast sitzen?«, beendete sie die Frage. »Nein. Ich bin raus, Karl. Sie haben mich rausgelassen.«

      Die Nachricht raubte ihm den Atem. »Du bist frei? Ich dachte, du müsstest noch drei Jahre brummen. Komm her, setz dich. Erzähl mir alles, von Anfang an.«

      Er griff nach seinem schwarzen Pullover und zog ihn über. Dann suchte er im Chaos seiner Werkstatt nach einem halbwegs sauberen Stuhl für sie. »Tut mir wirklich leid, dass ich mich in letzter Zeit so wenig bei dir gemeldet habe«, sagte er. »Es ist wie verhext. Jahrelang habe ich praktisch am Hungertuch genagt, doch plötzlich interessiert sich alle Welt für meine Arbeiten. Ich habe so viel zu tun, dass ich nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht.«

      Cynthia winkte ab. »Kein Grund, sich zu entschuldigen. Ich glaube, wir brauchten alle mal etwas Abstand voneinander. Schon allein, um diese alte Geschichte endlich zu vergessen.«

      Karl wusste genau, wovon sie sprach. Endlich fand er einen Stuhl, der noch halbwegs sauber war. »Du bist raus. Verdammt noch mal, das muss gefeiert werden. Lass uns anstoßen. Hier, setz dich. Ist zwar noch früh am Tag, aber ich muss hier noch irgendwo eine Flasche Wodka rumliegen haben. Warte einen Moment, ich bin gleich wieder da.« Er rannte die Eisentreppe zu seinem Zimmer empor, griff sich zwei Gläser, spülte sie aus und trocknete sie ab. Dann schnappte er sich die halbvolle Wodkaflasche und kehrte zu ihr zurück.

      »Du warst fleißig«, stellte Cynthia fest, die sich immer noch nicht gesetzt hatte, sondern seine Skulpturen musterte.

      »Was? Oh, das ist noch gar nichts«, erwiderte er. Mit Freude bemerkte er, dass seine Skulpturen sie zu interessieren schienen. »Die meisten befinden sich gerade als Leihgaben in Ausstellungen quer durch die Stadt verteilt. Dies sind die letzten, und ich habe nur noch zwei Wochen Zeit, um sie fertigzumachen.«

      »Sieht zum Fürchten aus«, sagte Cynthia mit Blick auf seine letzte Installation. Der Körper des Wesens bestand aus zusammengeschweißten Messerklingen – der fleischgewordene Alptraum eines psychopathischen Serienkillers. Aus Augen und Ohren des Wesens entsprangen, Wurzeln gleich, silberne Fäden und Fasern, die Zunge war aus Nato-Stacheldraht geformt.

      »Keine Skulptur, die sich für Kinderspielplätze eignet«, bemerkte sie mit einem Augenzwinkern. »Sie könnte allzu leicht als Klettergerüst missverstanden werden.«

      »Stimmt. Tatsächlich durften einige meiner Plastiken nur unter der Auflage aufgestellt werden, dass man einen Schutzzaun darum errichtete. Und die waren deutlich ungefährlicher. Nein, das hier ist für eine Bank.«

      Cynthia ging um die Figur herum. »Beängstigend«, sagte sie, während sie mit ihren Fingern über das scharfkantige Metall strich. »Würde ich dich nicht besser kennen, würde ich behaupten, dass du nicht ganz klar im Kopf bist.«

      »Ich befolge nur den Rat meines Psychologen. Er meinte, ich solle alles rauslassen. Und genau das tue ich.«

      Cynthia ging weiter zur nächsten Skulptur. Die Liebenden. Ein Arrangement aus sich durchbohrenden Messerklingen. Die scharfkantigen Metallflächen gaben den Figuren ein bizarres Aussehen. Sie strich über das aufgerichtete Glied des Mannes. Plötzlich zog sie ihren Finger zurück.

      Karl blickte besorgt. »Hast du dich verletzt?«

      Cynthia schüttelte den Kopf, während sie sich den Finger in den Mund steckte. Der Blick, den sie ihm zuwarf, erzeugte wohlige Schauer auf seinem Rücken. Karl spürte, wie sehr er sie immer noch begehrte.

      »Scharfe Sache«, nuschelte sie.

      »Soll ich dir ein Pflaster holen?«

      »Lass nur. Hört sicher gleich wieder auf. Gib mal den Wodka.« Sie tauchte ihren Finger in den hochprozentigen Alkohol und leckte ihn ab. »Siehst du? Schon vorbei.«

      »Auf dich«, sagte er, »und darauf, dass du dich wieder frei bewegen kannst.« Sie stießen an und nahmen einen Schluck. Cynthia hob anerkennend die Augenbrauen. »Der ist gut.«

      »Ich habe mich in den letzten Jahren zu einem Fachmann für Hochprozentiges entwickelt«, erwiderte Karl lächelnd. »Natürlich nichts Teures. Große Sprünge konnte ich mir in der Vergangenheit nicht erlauben. Im Sortiment von Lidl und Aldi kenne ich mich jedoch ganz gut aus. Es ist so ziemlich die einzige Freude, die ich mir von Zeit zu Zeit gönne. Aber jetzt erzähl mal. Wie ist es dir ergangen? Und wie kommt es, dass sie dich schon entlassen haben?«

      Cynthia ergriff den wackeligen Holzstuhl, den Karl ihr hingestellt hatte, setzte sich rittlings darauf und begann zu erzählen. Von ihrem Knastaufenthalt, von ihrer Arbeit, ihren Kindern, bis hin zu ihrer wundersamen Entlassung.

      Karl hing an ihren Lippen. Als sie fertig war, stieß er einen Pfiff aus. »Soso. Unser alter Wohltäter hat das also bewerkstelligt.« Er schüttelte den Kopf. »Kaum zu glauben, aber er hat seine Finger mittlerweile wohl überall drin.«

      Cynthia hielt den Kopf schief. »Warum so zynisch? Du hast ihm schließlich auch einiges zu verdanken. Hat er dir nicht diese Werkstatt vermittelt?«

      Karl trank den Rest und stellte das Glas umgedreht auf den Werktisch. »Oh ja. Diese Werkstatt, meine monatlichen Finanzspritzen und die Ausstellungen. Er hat sogar dafür gesorgt, dass ich demnächst ins Stiftungsprogramm für Kulturförderung aufgenommen werde. Das würde bedeuten, ich wäre finanziell unabhängig und könnte mich endlich mal an größere Objekte wagen. Davon träume ich schon lange.«

      »Aber das ist doch großartig«, sagte Cynthia. »Das wäre dein Durchbruch. Nichts könnte dich dann noch aufhalten.«

      Karl zögerte. Sosehr er es genoss, Cynthias Bewunderung zu erfahren, so sehr war er sich der tatsächlichen Situation bewusst. Langsam schüttelte er den Kopf. »Ich wünschte, es wäre so.«

      Cynthia blickte ihn fragend an. »Warum bist du nur so pessimistisch? Es gibt doch keinen Grund dazu.«

      Karl seufzte. »Es muss schrecklich unfair klingen, aber ich hätte es gerne allein geschafft, verstehst du? Aber so ist es nicht. Ohne ihn säße ich wahrscheinlich immer noch auf der Straße – und du noch im Knast.«

      »Da hast du verdammt noch mal recht«, sagte sie. »Aber statt ihm Vorwürfe zu machen, solltest du ihm dankbar sein. Soweit es mich betrifft, hat er nie irgendwelche Forderungen gestellt.«

      »Bei mir auch nicht. Aber ich wünschte, er hätte. Vielleicht würde ich mich dann nicht ganz so beschissen fühlen.«

      »Ich bin jedenfalls