Thomas Thiemeyer

Nebra


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      Der Mann nickte und zeichnete auf seinem Klemmbrett etwas ab. »Sie dürfen eintreten. Man erwartet Sie bereits.«

      Sie verabschiedete sich von der Beamtin, die sie begleitet hatte, und betrat den Besucherraum. Es war ein spartanisch eingerichtetes Zimmer, das jedoch geradezu anheimelnd wirkte, verglichen mit den Besucherzellen im geschlossenen Vollzug. Hier standen ein Tisch mit vier Stühlen, ein paar Bücherregale sowie eine modern wirkende Ledercouch, die das Zimmer von der rechten Seite aus dominierte. Ein Mann saß darauf. Knappe vierzig, hochgewachsen, das dunkle Haar ordentlich gescheitelt. Er trug eine teuer aussehende Brille mit dunklem Rand und musterte sie eingehend. Sein markantes Gesicht wurde von einer Narbe dominiert, die sich von seiner Oberlippe bis kurz unter das rechte Auge zog. Er erhob sich, als die Frau das Zimmer betrat.

      »Cyn.« Er ging auf sie zu, die Hand zum Gruß ausgestreckt. »Es tut mir leid, dass ich einfach so hier hereinplatze, aber ich muss für ein paar Tage verreisen und wollte dir vorher die frohe Botschaft unbedingt persönlich mitteilen.«

      Die Hand ignorierend, schlang die Frau ihre Arme um ihn und drückte sich an ihn. Der Mann, irritiert über so viel stürmische Wiedersehensfreude, zögerte kurz, erwiderte dann aber die Umarmung.

      Als er Tränen an seinem Hals spürte, löste er sich wieder von ihr. »Was ist denn los?«, fragte er. »Warum so emotional heute?«

      Sie wischte sich über die Augen. »Ach nichts. Irgendetwas liegt in der Luft. Ist vielleicht der Mond. Ich heule heute wegen jeder Kleinigkeit. Und dich wiederzusehen … es ist so unerwartet.«

      »Ja, ich weiß, ich hätte mich viel früher blicken lassen sollen, aber der Job frisst mich momentan auf. Das vergangene Jahr war die Hölle. Ein Termin jagte den anderen. Ständig musste ich zwischen den USA und Deutschland hin- und herreisen. Aber was erzähle ich? Bitte entschuldige, du bist hier drin und ich draußen. Jammern auf hohem Niveau nennt man das, glaube ich. Das war wirklich blöd von mir.« Er bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln.

      Cynthia kramte in ihrer Trainingshose und förderte ein benutztes Taschentuch zutage. Nachdem sie sich ausgiebig die Nase geputzt hatte, sagte sie: »Sie behandeln mich gut hier, wirklich. Essen ist okay, ich habe eine Arbeit, und an den Resozialisierungsseminaren nehme ich mittlerweile mit viel Humor teil. Also alles im grünen Bereich.«

      Der Mann setzte sich wieder und klopfte neben sich auf das Polster. »Die Arbeit mit den Kindern gefällt dir, oder?«

      »Oh ja. Es gibt nichts, was ich lieber täte.« Cynthia wischte sich die letzte Träne aus dem Augenwinkel und setzte sich neben ihn. »Es ist wirklich ein ganz besonderer Job. Sie sind so … so ehrlich, verstehst du? Ich habe noch nie so aufrichtige und herzliche Menschen kennengelernt. Keine Falschheit, keine Lügen, keine niederen Absichten. Nur offene Gesichter. Wenn sie Angst haben, suchen sie Schutz, und wenn sie jemanden nicht mögen, dann sagen und zeigen sie das sofort. Klar muss man aufpassen, manchmal gibt es Streit, und wenn sie in die Pubertät kommen, kann es schon mal schwieriger werden. Manche von ihnen haben dann nur noch Sex im Kopf, aber das habe ich im Griff. Wir machen ein paar Witze oder unternehmen etwas, das bringt sie auf andere Gedanken. Außerdem ist nichts Verwerfliches dran. Wir reden drüber und lachen, und es ist in Ordnung so.« Sie faltete ihre Hände zwischen den Knien. »Danke, dass du mir diesen Job besorgt hast. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich getan hätte.«

      »Wenn dir an dem Job so viel liegt, habe ich eine gute Nachricht für dich. Die Heimleitung hat sich bereit erklärt, die Probezeit in eine unbefristete Anstellung umzuwandeln.«

      »Was?« Cynthia hob die Augenbrauen. »Dazu müsste ich im Heim wohnen, und das ist, wie du weißt, unmöglich. Wenn ich nicht pünktlich um neunzehn Uhr hier wieder auf der Matte stehe, bekomme ich mächtigen Ärger.«

      »Das wird künftig anders sein«, sagte der Mann, und ein feines Lächeln umspielte seinen Mund. Er griff in die Tasche und förderte einen Stapel sehr amtlich aussehender Dokumente zutage. »Die Berufungsverhandlung war erfolgreich. Deinem Antrag auf vorzeitige Entlassung wegen guter Führung wurde stattgegeben. Am Montag kommst du hier raus. Auf Bewährung, versteht sich.«

      »Eine Berufung? Was für ein Antrag?«

      Sein Lächeln wurde breiter. »Habe ich dir nicht davon erzählt? Wie unachtsam von mir.« Er schüttelte den Kopf in gespielter Selbstzerknirschung. »Nein, im Ernst: Ich habe das für dich geregelt. Wäre es schiefgegangen, hättest du davon nichts erfahren. Aber wir hatten Glück. Sie haben dem Antrag stattgegeben. In vier Tagen bist du hier raus. Wie findest du das?«

      »Wie ich das finde …? Mein Gott.« Cynthia glaubte, ihr Herz würde aussetzen. Sie schlug die Hände vor den Mund. Sie würde rauskommen. Drei Jahre früher als erwartet.

      »Ich kann das nicht glauben. Seit wann weißt du es?«

      »Die Dokumente kamen Mittwoch mit dem Kurier. Da ich aber ab Montag unterwegs war und mich keiner aus der Kanzlei benachrichtigt hat, habe ich sie erst gestern Abend gelesen. Zu spät, um dich noch anzurufen. Aber ich dachte, es wäre ohnehin besser, dir diese Nachricht persönlich mitzuteilen.«

      Sie sprang auf und schlang erneut ihre Arme um ihn. Diesmal war er vorbereitet. Er erwiderte die Umarmung.

      »Danke.« Das war alles, was Cynthia in diesem Moment über die Lippen kam.

       [home]

      5

      Auf einem Felsplateau, hoch über den Wipfeln eines Fichtenwaldes gelegen, stand ein seltsamer Mann. An die zwei Meter groß und breit wie eine Eiche, wirkte er, als würde er den letzten Rest des Tageslichts förmlich aufsaugen. Mit der rechten Hand auf einen mannshohen Stab gestützt, links eine Keule haltend, die aus dem Oberschenkelknochen eines Bären geschnitzt war, verharrte er völlig regungslos am Rande eines Abgrunds und blickte in die Ferne. Eine Krone aus Wurzeln, aus der die Hörner eines Rehbocks ragten, zierte seinen Kopf. Seine Arme und Hände waren mit Streifen aus Leder und gewalkten Pflanzenfasern umwickelt. Das Haar war zu fettigen Strähnen verflochten und klebte an seinem Kopf. Sein Gesicht, das mit einer dicken Schicht aus Lehm und Asche bedeckt war, verlieh ihm das Aussehen eines wilden Tieres. Das einzig Menschliche an ihm waren seine Augen. Ein Hauch von Wehmut lag in ihnen, als er beobachtete, wie die Landschaft unter seinen Füßen in der Dunkelheit versank.

      Der Mann war ein Priester, ein heiliger Mann, ein Schamane. Ein Relikt aus einer Zeit, in der es in dieser Gegend noch Wölfe, Bären und Eulen gegeben hatte. Ein Überbleibsel einer längst vergangenen Epoche.

      Wie in den meisten Teilen der Welt hatte der Fortschritt auch in seinem Land Einzug gehalten, hatte die alten Werte und Traditionen verdrängt und durch Wissenschaft und Fortschritt ersetzt. Nur der Schamane war geblieben. Wie ein Fels in der Brandung stand er da und trotzte den Veränderungen der Welt.

      Im blassen Licht des Abends flammten nach und nach Lichtpunkte auf. Erst langsam, dann mit zunehmender Geschwindigkeit wurde das Land von einem Netz aus Helligkeit überzogen. Lichterketten zeigten an, wo sich eine Straße befand, leuchtende Haufen kündeten von einer Ortschaft. Kaum ein Fleck, der nicht besiedelt war. Es dauerte nicht lange, da war das ganze Land unter ihm ein Meer aus leuchtenden Punkten.

      Als abzusehen war, dass es nicht dunkler werden würde, wandte er sich um. Der Mond war als beinahe vollständige Scheibe über die Bergkuppe gestiegen, bereit, seinen Weg über das nächtliche Firmament anzutreten. Das Licht, das er spendete, genügte dem Schamanen, um den Weg zu finden. Er hätte ihn auch in vollkommener Dunkelheit nicht verfehlt, kannte er doch jeden Stein und jeden Grashalm dieses geweihten Landes. Ein kühler Wind kam auf und vertrieb die letzten Wolkenfetzen vom Haupt des heiligen Berges. Die ersten Sterne kamen zum Vorschein, flackernd und blinkend wie die Lagerfeuer der Götter. Eine Nacht, wie geschaffen für eine Anrufung.

      Der Schamane verließ den Pfad und wandte sich nach rechts. Nicht weit entfernt lag eine Höhle, dorthin wollte er gehen. Er musste jetzt vorsichtig sein, denn seine Schuhe aus Birkenrinde waren ungeeignet, um damit auf rutschigem Geröll zu gehen.