Michael Felten

Unterricht ist Beziehungssache


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und Kommunikation hingegen wird bislang nur von einem ungenügenden Bruchteil der Ausbildungszeit abgedeckt. Diese Leerstelle bzw. Grauzone muss ebenfalls in der Lehrerweiterbildung gefüllt bzw. geklärt werden – sonst bleibt alle Schulentwicklung technokratisches Stückwerk.

      Im Übrigen kann man nur zu diesem Beruf raten. Lehrerin, Lehrer sein ist zwar harte Arbeit – aber auch eine sehr schöne, auf eigentümliche Art erfüllende. Zwischenmenschliche Nähe und Fürsorge beinhalten ganz einfach eine Art Glücksangebot. Zudem wirkt man ja aufbauend, arbeitet als freier Menschenbildner, gestaltet Lebendiges mit. Nicht zuletzt beteiligt man sich an einem der letzten Abenteuer in der Wohlstandsgesellschaft. Denn hat nicht jede Unterrichtsstunde auch den Reiz des Ungewissen?

      [13] 2

      ›Pädagogische Beziehung‹ in Ideengeschichte und Forschung

      Lehren und Lernen vollziehen sich in einem Feld zwischenmenschlicher Beziehungen und Bedeutsamkeiten, das ist offenkundig, erscheint beinahe als Binsenweisheit. Die Relevanz dieser Emotionen und Interaktionen ist jedoch erst allmählich erkannt worden. Mittlerweile sieht die Forschung sie übereinstimmend als »zentrales Vehikel für positive Outcomes (u. a. Motivation, Lernergebnisse, soziale Anpassung)«. So erzielt einer aktuellen Metaanalyse zufolge »die (affektive) Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung mittlere bis große Effektstärken für schulisches Engagement (und kleine bis mittlere für Leistung)«2. Zentrale Marksteine dieser Klärungsentwicklung seien kurz skizziert.

      Interessante Vordenker

      Die Wichtigkeit der pädagogischen Beziehung ist schon früh von einzelnen Philosophen und Gelehrten erkannt und bedacht worden. Da bis in die Neuzeit aber nur die wenigsten Menschen öffentlichen Unterricht genießen durften, sind solche Stimmen zum Lehrer, seiner Rolle und dem pädagogischen Verhältnis rar. Eine ist die bereits angerissene des schweizerischen Humanisten Erasmus von Rotterdam (1469–1536): »Der erste Schritt beim Lernen ist die Liebe zum Lehrer«. Erasmus [14]stellte dies aber nicht einfach fest, er erklärte auch, warum es so bedeutsam sei: »Im Verlauf der Zeit wird es gewiß geschehen, daß der Knabe, welcher die Wissenschaften um des Meisters willen zu lieben begonnen hatte, später an dem Meister um der Wissenschaft willen hängt.« Hieraus erwachse nun aber für Lehrer eine gewisse Verpflichtung zu freundlicher Grundhaltung – damals anscheinend nicht selbstverständlich: »Es gibt aber einige [Lehrer] von so unliebenswürdigem Wesen, daß nicht einmal ihre Frauen sie gerne zu haben vermögen […].«3

      Hier wird allerdings lediglich das anthropologische Grundprinzip intergenerationaler Ausrichtung vorweggenommen. Was der Begriff ›Beziehung‹ indes genau meint, was sich abspielt im Verhältnis zwischen Wissendem und Reifendem und welche erzieherische Haltung für welches Entwicklungsziel die angemessenste wäre – solche Fragestellungen bedurften der Aufklärung, die das Kind als besonderes, eigenständiges Wesen erkannte. In seinem pädagogischen Hauptwerk Émile oder Über die Erziehung (1762) formulierte Jean-Jacques Rousseau erstmals die Notwendigkeit einer autonomen Lehrperson und der spezifischen pädagogischen Beziehung. Diese müsse getragen sein vom Wissen des Erwachsenen um die Charakteristika der kindlichen Entwicklungsphasen und die Bedeutung des Lernens durch Erfahrung.

      Hermann Giesecke (21999)4 hat nachgezeichnet, wie unterschiedlich dies von verschiedenen Erzieherpersönlichkeiten im 19. Jahrhundert interpretiert wurde. Der Schweizer Pestalozzi etwa sah seine Zöglinge quasi als Geschwisterkinder einer großen Familie, er praktizierte in seinem Waisenhaus in [15]Stans eine fürsorgliche, beinahe pathetische Väterlichkeit. Dem Italiener Bosco galten alle Kinder zunächst einmal als Geschöpfe Gottes, in seinem Turiner Oratorium bemühte er sich vor allem um liebevolle Akzeptanz. Der Russe Makarenko dagegen nahm in der Gorkij-Kolonie die ursprünglich verwahrlosten Jugendlichen als Kollektivmitglieder wahr, sich selbst betrachtete er als distanzierten Leiter und professionelles Vorbild. Alle hatten sie indes eine Gemeinsamkeit: das klar hierarchisch geordnete Verhältnis von Erzieher und Zögling.

      Dies änderte sich mit der reformpädagogischen Wende um 1900: Kinder wurden jetzt nicht mehr als Objekt gutgemeinter Bemühungen gesehen, sie gewannen neuen Stellenwert als Subjekt, als gleichwertiges Gegenüber. Das zeichnete sich bereits in der deutschen Jugendbewegung ab, die das Kind als kleinen Kameraden bzw. Genossen ansah, aber auch bei der KPD, in der Kinder als zukünftige Klassenkämpfer fungierten. Auch der Pädagoge Korczak im Warschauer Waisenhaus Dom Sierot begriff sich nur noch als liebevollen Arrangeur günstiger Umstände für unterdrückte Menschenkinder. Am radikalsten drückte sich diese Subjektorientierung in A. S. Neills Schule Summerhill aus: Er lehnte jede von außen an das Kind herangetragene Erziehungseinwirkung ab; lediglich therapeutische Einwirkung auf Schwierige akzeptierte und vollzog er.

      Erst mit der Aufklärung also wurde das Band, die Bindung, die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler(n) allmählich zum Gegenstand genaueren Erfassens und begrifflicher Präzisierung. Heute können wir uns auf Modelle aus (geistes)wissenschaftlicher Pädagogik und Psychologie im 19. und 20. Jahrhundert ebenso stützen wie auf aktuelle Befunde aus Neurowissenschaften und empirischer Unterrichtsforschung.

      [16]Geisteswissenschaftliche Pädagogik

      In den 1920er Jahren unternahm Herman Nohl mit seinem Konzept »pädagogischer Bezug« erstmalig den Versuch, dieses eigentümliche menschliche Verhältnis wissenschaftlich zu modellieren. Dabei charakterisierte er die Beziehung zwischen Zögling und Erzieher als »Bildungsgemeinschaft«5, in der beide – auf unterschiedlichen Entwicklungsniveaus stehend – aufeinander angewiesen seien. Das pädagogische Verhältnis ist demnach das eines reifen zu einem werdenden Menschen: Es beinhaltet zwar persönlich-emotionale Aspekte (»Leidenschaft«), hat aber keine sexuelle Komponente (»hebend, nicht begehrend«). Und es orientiert sich auch nicht unmittelbar an externen Ansprüchen der Gesellschaft, sondern zunächst an der Befindlichkeit und den Bedürfnissen des Zöglings. Zwar sieht Nohl die Pädagogik nicht als bloßen Selbstzweck, sondern auch objektiven Gehalten und Zielen verpflichtet. Allerdings sei der Zögling nicht an gesellschaftliche Rahmenbedingungen anzupassen, sondern diese müssten an ihn vermittelt werden.

      »[W]as immer an Ansprüchen aus der objektiven Kultur und den sozialen Bezügen an das Kind herantreten mag, es muß sich eine Umformung gefallen lassen, die aus der Frage hervorgeht: welchen Sinn bekommt diese Forderung im Zusammenhang des Lebens dieses Kindes für seinen Aufbau und die Steigerung seiner Kräfte und welche Mittel hat dieses Kind, um sie zu bewältigen?«6

      [17]Der pädagogische Bezug ist für Nohl kein einseitig vom Erzieher auf den Zögling hin ausgerichtetes Beeinflussungsverhältnis, sondern er beruht auf Wechselwirkung. Der Zögling besitze ein Eigenrecht. Das mache pädagogisches Wirken überhaupt erst möglich, und es schließe jede Gehorsamsorientierung aus. Eine solche Beziehung könne im Übrigen nicht erzwungen werden, da auch Momente wie Sympathie und Antipathie wirksam seien, die weder Erzieher noch Zögling beeinflussen könnten. Daher dürfe der Erzieher nicht gekränkt sein oder gar in Vorwürfe verfallen, wenn der Bezug nicht gelinge. Er könne höchstens versuchen, eine konstruktive Bindung des Kindes zu jemand anderem herbeizuführen.

      Tiefenpsychologie

      Aus der Behandlung seelisch erkrankter Menschen war schon Ende des 19. Jahrhunderts die Einsicht erwachsen, dass menschliches Verhalten und Erleben auch bei Gesunden maßgeblich durch unbewusste Vorgänge erklärt werden könne. Seitdem haben Impulse aus Psychoanalyse und Individualpsychologie auch das Verständnis von schulischen Lernprozessen bereichert. Die Lehrperson kristallisiert sich dabei als ein ebenso anregendes wie spiegelndes personales Gegenüber heraus, das für kindliche Entwicklungsprozesse höchst bedeutsam ist.

      Psychoanalyse

      Sigmund Freud hat darauf aufmerksam gemacht, dass (ähnlich dem psychoanalytischen Gespräch) das Setting Unterricht eine besondere Beziehungskonstellation zwischen Menschen schaffe, in der sich unterschwellige Vorgänge abspielen – er [18]nannte sie Übertragung und Gegenübertragung7. Schüler wollten (oder sollten) gewisse Kenntnisse oder Fähigkeiten erwerben (»Das will ich auch wissen!«) – dadurch werde der dies vermittelnde Lehrer zu