sich nun viel dringlicher stellte als zuvor, da das Silicon Valley noch nicht Covid-19 auf seiner Seite hatte.
Vorerst kann man sich noch beruhigen: Das Studentenleben in Mainz verschwindet nicht, wenn einige in ihrer Mainzer Studentenbude Online-Kurse der TU-Darmstadt belegen. Aber es ist ja auch erst der Anfang vom Ende. Je mehr Kurse online angeboten werden, umso weniger Gründe wird es geben, nach Mainz zu ziehen. Und dann werden die Zufallsbegegnungen auf dem Campus und den Partys und die Gespräche in den Cafés und Bars doch immer seltener, bis sie eines Tages verschwunden sind und man allemal noch auf einem Fun&Sex-Event im Spring-Break andere Studentinnen anders als am Bildschirm kennenlernt. Der Online-Campus, das Distant Learning und der Global Teacher – andere Stichwörter der Zukunft sind OER (Open Educational Resources) und MOOC (Massive Open Online Course) – sind die Vorboten einer Zukunft, vor der man immer Angst hatte (außer man ist ein Start-Up, das Bildungs-Apps baut).7
Die Krise wurde nicht nur deswegen als Chance gesehen, weil sie die Digitalisierung beschleunigt. Andere versprachen sich gerade aus der Entschleunigung, die der Shutdown mit sich brachte, einen Bewusstseinswandel. Eine allgemeine Besinnung auf das, was wirklich wichtig ist im Leben, erhofften die Seelsorgerinnen, die Therapeuten und die kulturkritischen Soziologen. Selbst der italienische Architekt Renzo Piano sprach in einer Video-Botschaft davon, dass diese Krise uns besser machen werde, weil sie die Fragilität der Welt vor Augen führe. Das Resultat werde ein nachhaltigeres, umweltgerechteres Bauen sein. Alle legten so viel Hoffnung in das, was ihnen geschah; versprachen sich eine neue Gesinnung aus der nun möglichen Besinnung, apostrophierten das Virus als Geburtshelfer eines besseren Ich. Aber so ist der Mensch: Elend ist besser zu ertragen, wenn es einen tieferen Sinn hat.8
Dass ein Kurswechsel die Unterbrechung des Gewohnten voraussetzt, ist natürlich keine neue Ansicht. Sie war nicht einmal vor hundert Jahren neu, als Siegfried Kracauer die Geburt der Massengesellschaft intellektuell sezierte und in einem Zeitungsartikel mit dem Titel Langeweile schrieb: „Die Welt sorgt dafür, dass man nicht zu sich gelange, und nimmt man auch vielleicht kein Interesse an ihr – sie selber ist viel zu interessant, als dass man die Ruhe fände, sich so ausführlich über sie zu langweilen, wie sie es am Ende verdiente.“ Die Langeweile ist für Kracauer somit die einzige Beschäftigung, „die sich ziemt, da sie eine gewisse Gewähr dafür bietet, dass man sozusagen noch über sein Dasein verfügt.“9
Der Shutdown als Königsweg zur Selbstfindung? Funktioniert das hundert Jahre später noch? Zunächst fällt auf, dass die Unterbrechung ihr moralisches Vorzeichen änderte. Es geht nun weniger um den Schutz des Menschen vor dem Einfluss der Welt als umgekehrt. Die Pandemie sorgte dafür, dass die Welt einmal zur Ruhe kam und im doppelten Sinne aufatmen konnte. Das kommt letztlich auch den Menschen zugute: In berüchtigten Smog-Metropolen gab es wieder blauen Himmel, weswegen gelegentlich sogar argumentiert wurde, Covid-19 rette mehr Menschenleben als es fordert. Die aktuelle Entsprechung zur Langeweile heißt Unverfügbarkeit: Plötzlich verfügt der Mensch nicht mehr über die Welt, er kann sie nicht mehr heimsuchen in ihren entlegensten Orten, er kann ihre Ressourcen nicht länger ungebremst nutzen, er kann sie nicht wie bisher rücksichtslos verschmutzen. Als habe die Welt das Virus geschickt, um sich den Menschen vom Leib zu halten. Kaum überraschend, dass die Prediger der Unverfügbarkeit der Pandemie viel Positives abgewannen.10
Wie unverfügbar, wie entrückt aber ist die Welt wirklich, wenn man zuhause bleibt, ein Jahrhundert nach Kracauer, im Zeitalter von Radio, Fernsehen und Internet? Ist das Haus nicht auch die perfekte Kommandozentrale! Immerhin: Wer Filme streamt, macht sich unabhängig vom Kinoprogramm; wer Menschen nur noch am Bildschirm trifft, ist sicher vor ungeplanten Begegnungen und freier auch in der Kleiderordnung – und wer zuhause bleibt, hat nicht einmal lose Dachziegel zu fürchten. Der heimische Raum ist der klassische Ort individueller Kontrolle. Erhöht sich also deren Reichweite, wenn die Welt sich verstärkt dort ereignet? Es ist ein Kontrollzuwachs im Rahmen sinkender Verfügbarkeit, der zudem keineswegs verlässlich ist. Denn wenn die Arbeitsbesprechung am Bildschirm auf dem heimischen Sofa stattfindet, wird ja selbst das Heiligste dem Verfügungsraum des Privaten entzogen. Wir werden in Kapitel drei sehen, welch katastrophale Folgen das haben kann.
Wie auch immer es sich mit Langeweile und Unverfügbarkeit im Kontext digitaler Vernetzung verhält: Dass vieles im persönlichen Leben auch anders geht oder jedenfalls anders sein sollte, gehörte zu den großen Einsichten jener Tage. Erstaunt stellte man fest, wie sehr man sich eigentlich freute, auf bestimmte Aktivitäten verzichten zu müssen. Dabei war man doch nie gezwungen worden. War man dem Mobilitäts-Hype der anderen auf den Leim gegangen? War man FOMO erlegen, der berüchtigten fear of missing out? Das Virus erlaubte nun, zuhause zu bleiben, und man war ihm, im Frühjahr, sogar dankbar dafür wie manchmal am Sonntag dem Regen. Man begann, seine alten Briefe und Tagebücher zu lesen oder zumindest die alten Fotos auf Facebook durchzugehen. Man rief alte Freunde an, auch Ex-Freunde, um sich sogleich, egal wo in der Welt sie sich befanden, mit Wein und Snacks am Bildschirm zu treffen. Denn das war nun die Art, nun, da Treffen Bildschirm hieß. Oder man kappte radikal alle Kommunikationskanäle und las ein sehr dickes Buch. Was für ein JOMO-Fest! Denn natürlich hatte die Generation Z auch dafür schon einen Namen und eine nutzerfreundliche Abkürzung fürs Texting: joy of missing out.
Die Unverfügbarkeit und Langeweile à la Kracauer war weit politischer als ein Begriff wie JOMO vermuten lässt. Sie war auch eine Art Selbstbefragung des Anthropozäns: das Ende eines Beschleunigungsprozesses, der seit mehr als zwei Jahrhunderten immer mehr Teile der Welt bestimmt und sich trotz sichtbarer Klimaveränderungen in den letzten Jahrzehnten als weitgehend resistent gegen zunehmende Warnungen und wachsende Kritik erwies. Das Virus, darin liegt seine rettende Nebenwirkung, zerstört auch diese Immunität. Mit seiner „geradezu monströsen Unverfügbarkeit“ ist es der „Albtraum der Moderne“ und zugleich ihr Weckruf, denn es könnte ihr zu dem gesellschaftspolitischen Paradigmenwechsel verhelfen, den sie seit langem nötig hat.11
So jedenfalls sah es jener Teil der Soziologie, der dem Prozess der Moderne kulturkritisch gegenüberstand. Und er sah erste Anzeichen für den ersehnten Paradigmenwechsel darin, dass anders als im Falle der Finanzkrise Systemrelevanz diesmal nicht ökonomisch erfasst wurde, sondern sozial und biologisch. Denn die von der Politik ergriffenen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung geben deutlich dem Überleben der Alten und Schwachen Vorrang gegenüber der Gesundheit der Finanzmärkte und den Interessen der Kapitalakkumulation. Man erteilte wacker jeder Bereitschaft eine Absage, dieses Virus mit seiner spezifischen Altersgruppendiskriminierung als eine Korrektur demografischer Schieflagen zu sehen, die willkommene Entlastungseffekte für die Krankenkassen und Rentensysteme mit sich bringt.
Welchen Paradigmenwechsel, welche Formen einer alternativen Politik das „Gelegenheitsfenster“12 der Krise mit sich brachte und mit sich bringen konnte, lässt sich erst in der Distanz beurteilen. Zur weit verbreiteten Einsicht schon der ersten Tage jedenfalls gehörte die Mahnung, dass im gesellschaftlichen System vieles anders werden muss: menschlicher, sozialer. Naheliegender Ausgangspunkt war das Gesundheitssystem, dessen Durchökonomisierung und Kommodifizierung erst dazu geführt habe, dass nun ein bedrohlicher Mangel an Krankenhausbetten und Pflegepersonal besteht. Die Einsicht, dass das Gesundheitssystem ein Ort der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge ist und kein Wirtschaftsunternehmen, brachte nicht nur links außen eine Reihe an Forderungen mit sich: das System der Fallpauschalen beenden, das applaudierte Pflegepersonals aufstocken und besser bezahlen, die großen Krankenhaus- und Pflegekonzerne vergesellschaften. Weitere Forderungen, auch diese keineswegs nur von der Linken, zielten auf die solidarische Verteilung der Wohlstandsverluste durch einen „Lastenausgleich“ wie nach dem Zweiten Weltkrieg und auf die Beteiligung der Wohnungswirtschaft an den Kosten der Krise durch einen Mietenerlass, statt ihre Renditeerwartungen durch Krediterleichterungen und zusätzliche Sozialleistungen für die Mieter staatlich zu sichern.13
Die Reichensteuer kam so wenig wie der Mietenerlass. Aber immerhin forderte jetzt kein „Gesundheitsökonom“ mehr, wie noch wenige Monate zuvor, in Deutschland die Hälfte der Krankenhäuser wegen mangelnder Effizienz zu schließen – eine „Zerstörung von sozialer Infrastruktur in einem geradezu abenteuerlichen Ausmaß“, wie der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft kommentierte.14 Die renditeorientierte Organisation des Gesundheitssystems