Blai Bonet

Das Meer


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für mich glich die Straße dem Krieg, einer Kampfzone, wo mich – Peng! – eine Kugel zu Boden gehen lassen konnte, Arme und Beine auf grausige Weise von mir gestreckt. Ich trat hinaus auf die Straße. Vorsichtig. Wie ein Soldat. Als würde ich aus einem Schützengraben herauskriechen, für eine Mission auf Leben und Tod. Weit ging ich nicht. Bis zum Haus von Pau Inglada, einem Jungen meines Alters, der der Anführer unseres Camps war, das wir in einer Höhle außerhalb des Dorfes aufgeschlagen hatten.

      Pau Inglada saß allein im Hof und hielt sich die Hände vors Gesicht. Er schluchzte leise, wie Menschen, die sich zum Weinen in eine Ecke zurückziehen. Ich sagte nichts, denn ich wusste nicht recht, was man sagt, wenn sich ein Junge, der im Camp der Anführer ist, in einer Ecke versteckt, um zu weinen. Ich streichelte ihn, am Hals. Wortlos. Als ob ich wüsste, weshalb er weinte. Für Jungen im Alter von neun Jahren gibt es nur Tränen und den Tod, unverfälscht und sachlich, wie ein Messer oder ein Baum. Neunjährige Jungen wissen nichts von weitreichenden, tiefen und rastlosen Gedanken.

      Pau Inglada schaute zu mir hinauf. Erstmals begriff ich, dass ein weinender Junge einem Mann gleicht.

      „Mein Vater ist fortgegangen, gestern Abend bei Sonnenuntergang. Er ist noch nicht zurück, ich beobachtete, wie … ich sah … ich sah, dass er sich die Pistole in die Hose steckte, die Astra in die Hosentasche steckte.“

      Als Pau Inglada «die Astra» sagte, schaute er mich an, denn er hatte sie seinem Vater einmal entwendet und mit zum Camp gebracht und auf die Brust von Julià Ballester gerichtet, damit dieser ihm ein Artillerieabzeichen aushändige, das er in seiner Tasche hatte, denn Pau Inglada war der Anführer und besaß keine Orden und musste den Verschluss einer Gaseosa-Limonade tragen, den er an sein Hemd geklipst hatte.

      Schon den ganzen Tag patrouillierte die Guardia Civil auf der Straße: Wagen wurden angehalten, Nummernschilder notiert. Ein seltenes Schauspiel für Pau Inglada und mich war das. Mir kam es so vor, ungelogen, als blockierten Don Silvestre, Don Casimiro, Don Matías und Don Pascual, die allesamt Freunde meines Vaters waren, die Straße, in der ich wohnte.

      Die Männer auf den Schiffen landeten nicht an, nicht am Küstenstreifen vor meinem Dorf.

      Gegen Abend, als Mutter das Holz, das Wasser und das Gemüse schon ins Haus getragen und Vater das Pferd getränkt hatte, überbrachten sie die Nachricht. Man hatte den Vater von Pau Inglada gefunden, tot, auf einem Haufen, mit zwei Kugeln im Genick und einer im Rücken. Die Nachricht wurde von zwei Freunden von Pau Ingladas Vater überbracht. Er hieß Mateu und war ein sanfter, ein heiterer Mensch, bis er starb. Als die Nacht am tiefsten war, brachten sie den Leichnam auf einer Bahre und von einer Decke verhüllt durch eine Hintertür ins Haus. Die Schweigsamkeit der Träger jagte mir genauso viel Angst ein wie der schwere Kopf, der unter dem Tuch hin und her wackelte. Pau Ingladas Mutter hatte ihr Taschentuch zu einem Ball geknüllt und biss hinein.

      Die Träger stellten die Bahre auf dem Boden ab, enthüllten den Leichnam und schleuderten die Decke in die Ecke. Pau Ingladas Vater trug alte, blaugestreifte Hosen und ein kakifarbenes Hemd. Er war blass und seine Zähne waren zu erkennen. Die Träger knieten nieder und entkleideten den Leichnam. Pau Ingladas Vater war wenig behaart. Als sie ihm die Hosen auszogen, diese zunächst aufknöpften und am Fußende zogen, lernte ich die Macht des Todes kennen, denn ich sah, wie Pau Ingladas Vater sich nicht mit der Hand die Scham verhüllte, als man ihm die Hosen runterzog.

      Die blutgetränkte Kleidung wurde in einen Verschlag am anderen Ende des Hofes abgelegt. Mein Vater, der bleich im Gesicht wie der Kalk an den Wänden gewesen war, trug sie später weiter.

      Man schickte Pau Inglada und mich zusammen ins Bett, er weinte die ganze Nacht. Als wir morgens aufstanden, schien er mir schmaler, wie alle Jungen, nachdem sie verstanden haben, wie Kinder auf die Welt kommen.

      Nach diesen Ereignissen hockten wir an den Sommerabenden in der Küche oder im Pferch, eingesperrt wie Verurteilte, als ob wir etwas auf unser Gewissen geladen hätten. Da uns niemand hat morden oder rauben sehen oder den guten Ruf anderer in den Schmutz ziehen, erhebe der sein Wort, der zu sagen wüsste, wessen wir uns zu schämen hätten.

      Vater wollte nicht, dass wir hinausgehen und mit den Männern und Frauen unserer Straße gemeinsam die Frische der Nacht genießen. Wir standen mit allen gut. Die Frauen kamen zu uns, mittags wie spät abends, um sich einen Strauß Petersilie, ein Blatt Sellerie, eine Handvoll Salz zu borgen; die Männer kamen ständig, um meinen Vater nach Feuersteinen zu fragen, der ihnen antwortete – womit er recht hatte –, dass sie, wenn sie nur ein Fünkchen Verstand besäßen, soviel wie eine Erbse, zum Tabakhändler gingen, bei dem man zehn Feuersteine für zwei Pesten erhielt. Wie die Schweine schwitzten wir, verurteilt, die ganze Nacht im Pferch zu hocken, um bloß die Leute nicht zu sehen, die mit gefesselten Händen vor dem Bauch die Straße hinuntergetrieben wurden, wie sündige Priester. Man brachte sie vor das Dorf. Auf einen Weg zwischen zwei Feldern, der von hohen Mauern gesäumt war und wo überall diese großen stacheligen Pflanzen standen, die große gelbe, runde Blüten haben, die man Teufelsbälle nennt. In dieser Gasse zwang man die Männer, Rizinusöl zu trinken. Einen Liter oder anderthalb. Danach band man ihnen die Hosenbeine am unteren Ende zu und trieb sie mit patriotischen Liedern durch den Ort; sie aber hatten die Stimme verloren und weinten wie Weiber und konnten nicht laufen, weil sie in ihre Hosen gemacht hatten.

      Nachdem ich diese Grausamkeit sah, diese Erniedrigung, bekam ich meine Krankheit.

      Es passierte in einer Oktobernacht. Pau Inglada und ich hatten Wind davon bekommen, dass Männer vor der Mauer des Friedhofs erschossen werden sollten. Ein hagerer, junger Typ, der mit Strohdächern und Sandsäcken und mit Beuteln, die mit Johannisbrot und Grünzeug gefüllt waren, Unterstände gegen Bombenangriffe errichtete, hatte das erzählt. Die Nächte verbrachte meine Mutter im Haus von Pau Inglada, um der Witwe beizustehen, die verrückt zu werden drohte und irreredete. Mein Vater, der der Miliz angehörte, patrouillierte mit einer Mauser, die ihm der Sergeant der Guardia Civil gegeben hatte, an der Küste, und ich müsste ganz falsch liegen, wenn mein Vater wirklich gewusst hätte, was er mit einer Mauser anzustellen hätte, falls zwei Meter entfernt von ihm einer hinterm Busch hervorgesprungen wäre. Mein Vater war ein durch und durch unbeschriebenes Blatt und stand allen nur im Weg. Pau Inglada und ich schliefen zusammengekauert, es gefiel uns, dass man uns wie Erwachsene allein schlafen ließ. Er rauchte im Bett. Ich mochte Tabak nicht, aber ich rauchte, damit er nicht sagte, ich hätte nichts in der Hose.

      In jener Nacht schlichen wir uns aus dem Haus. Wir sprangen über die Mauer auf die Straße. Als wir an der Scheune vorbeikamen, bemerkten wir das unruhige Pferd. Die Straße lag einsam da. Der Asphalt glänzte unter dem Licht der Sterne. Die Luft war still, die Bäume bewegungslos. Einzig der Duft der roten Erde, jener besondere Duft vertrockneten, staubigen Grases, das neben den Mauern verdorrt war, stieg empor. Wortlos durchquerten wir den Ort. Die Straßen waren menschenleer. Als wir den Ausgang des Dorfes und das Wegekreuz erreichten, das von Oleandern und krüppligen, staubbedeckten Kiefern überwuchert war, schauten wir uns lächelnd und ängstlich zugleich an, denn nun begann der Weg hinauf zum Friedhof, vor dem wir uns fürchteten.

      Wir verließen die Straße, stapften direkt über die lehmigen Felder und verletzten uns an den harten Stoppeln. Der Duft der eng beieinanderstehenden Oleaster überlud uns mit Furcht, einer heimlichen Feigheit und Wortlosigkeit. Es war mühselig, über die rote und von der Sonne aufgebrochene Erde voranzukommen, wir wanderten hinter den Mauern, an den Brombeeren vorbei und über austreibenden, übelriechenden Spargel. Dieser seltsame Gestank der Felder war uns neu.

      Der Friedhof lag neben der Straße und war etwa fünfzig Schritte von unserem Pfad entfernt. Die Strecke bis zur Friedhofsmauer war steinig und übersät von Affodill und Gestrüpp. Wir blieben auf der anderen Seite des Weges … und liefen durch einen kleinen Hain aus Steineichen mit dicken, alten Waldmeistersträuchern. Ein gutes Versteck. Wir krochen in einen der Sträucher. Er war dreimal höher als wir. Durch die Äste hindurch sahen wir die mondbeschienene Mauer und die schwarzen Zypressen, die sie etwa einen halben Meter überragten. Ebenfalls zu erkennen war der kleine Glockenturm der weiß gekalkten Kapelle.

      „Pau.“

      „Ja?“

      „Wo bist du?“

      „Hier.“