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Ema Engerer
LIEBENDE
Roman
Personen und Handlungen des Romans sind frei erfunden.
1. Auflage 2017
© 2017 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Oberstdorf
Alle Rechte vorbehalten
Kein Teil des Buches darf in irgendeiner Form oder zu irgendeinem Zweck elektronisch oder mechanisch, einschließlich Fotokopie, Recording und Wiederherstellung ohne schriftliche Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Umschlaggestaltung: Jennifer Jünemann | www.bitdifferent.de unter Verwendung einer Illustration von Ivan Fedorov/123rf
Satz und Layout: Marx Grafik & ArtWork
Lektorat: Sylvia Luetjohann
Gesetzt aus der Warnock
ISBN 978-3-86410-145-8
eISBN 978-3-86410-317-9
Die Yogini Melong Za Rinchen Tso
Hing ihre weißen Gewänder an die Strahlen der Sonne
Und tanzte nackt in den Bergen.
Nur noch Regenbogenlicht war von da an ihr Kleid.
(aus: Die weibliche Seite des Buddha, Agnes Pollner, 2008, S. 404)
Andere mögen zum Kloster gehen und Lampen opfern.
Ich folge dem Yogipfad und entzünde die Butterlampe
der angeborenen Seligkeit, die im Herzen wohnt.
Milarepa (1040 – 1123)
Für
Chögyal Namkhai Norbu
und
J.
Inhalt
Aufbruch
Sie flog. Über endlose Ebenen, schneebedeckte Berge, grüne Täler. Leicht. Mühelos. Durchdrungen von Freiheit. Wie ein großer Vogel hing sie im offenen Himmel, glitt hinweg über mächtige Yakherden. Mit einem winzigen Flügelschlag schwang sie sich hoch in die Lüfte, die Welt unten wurde fern und unwirklich. Immer höher flog sie, hinein in die gleißende Sonne. Glück durchströmte Özel Li. Sie gab sich hin.
Ein feiner Schmerz durchzuckte sie, sie schlug die Augen auf. Aus den Augenwinkeln erspähte sie, wie eine zottelige graue Maus an ihrem Arm vorbeihuschte und im Dunkel der Hütte verschwand. Schlaftrunken drehte sie sich auf die andere Seite und zog sich die grobe Schafwolldecke über die Nase. Der Traum steckte ihr noch in den Knochen. Sie sah die Erde unter sich, die Flüsse und Wälder, spürte die Schwerelosigkeit, atmete die dünne, frische Luft und lachte mit dem Wind. Dieser Traum kehrte wieder und wieder. Und mit ihm ihr Sehnen nach grenzenloser, bedingungsloser Freiheit. Er war auch schuld daran, dass sie in dieser verlassenen staubigen Hütte lag, war sie doch vor zwei Tagen nachts aus dem Familienzelt weggelaufen, unmittelbar nachdem die Mutter ihr angekündigt hatte, der Familienrat habe beschlossen, sich nach einem Ehemann für sie umzuschauen. Der Vater habe schon einige Männer eingeladen, denen sie vorgestellt würde. Özel Li aber wollte keinen Ehemann. Sie wollte keinen Haushalt führen und Kinder aufziehen, so wie es ihre beiden älteren Schwestern taten. Sie liebte es, auf ihrem kleinen, schwarzen Pferd Kush durch die Wälder zu streifen, am Fluss zu liegen und stundenlang den Wolken am Himmel nachzuschauen und ihre rätselhaften Formen und Gesichter zu entschlüsseln. Schon immer wollte sie lesen und schreiben lernen, aber ihre Eltern hielten dies für ein Mädchen unnötig. So hatte sie es, so gut es eben ging, heimlich von ihrem Bruder abgeschaut. Sie hatte