Nase. Der Ilt war genauso beunruhigt wie alle anderen, aber im Gegensatz zu ihnen bekam er etwas von Rhodans Innenleben mit. Dieser war wohl bei Bewusstsein, aber in welchem Maße ...
»Frag erst gar nicht!«, sagte der Ilt.
Du sollst meine Gedanken nicht lesen, schimpfte Laura lautlos.
Gucky zeigte seinen Nagezahn nicht. »Als ob ich das verhindern könnte, so laut, wie ihr alle denkt. Spielt doch überhaupt keine Rolle. Wir haben alle Angst um ihn.«
Sein Blick fiel auf den MINSTREL. »Was macht der denn hier? Und was ist mit ihm los?«
Der aus unzähligen, sich ständig bewegenden kleinen Kuben zusammengesetzte Kugelkörper zeigte merkwürdige Muster. Laura erkannte dreidimensionale Anordnungen, die in stetigem Fluss waren und deren Sinn sich ihr nicht erschloss.
»Ich übermittle die Aufzeichnung an Mentro Kosum«, teilte Gucky mit. »Unser Gefühlsnautiker kann damit vielleicht mehr anfangen. Vielleicht kennt er so etwas ja von Cybora.«
Kurz darauf erschien Kosums rothaariger Kopf in einem kleinen Holo. Der Emotionaut stammte von Cybora, einer der technisch orientierten Kolonien. Er war speziell für diesen Flug an Bord genommen worden – auf Betreiben von NATHAN.
»Was soll das bitte sein?«, erkundigte Kosum sich. »Ich habe gerade anderes zu tun, wie ihr euch vorstellen könnt.«
»Ich dachte, du könntest mit den Mustern etwas anfangen. NATHANS Lieblingszwillinge sind überfordert. Von mir will ich gar nicht reden. Es könnte etwas mit Perrys Zustand zu tun haben. Deshalb frage ich ...«
Kosum schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ganz sicher ist das ein multidimensional abgeleitetes Muster. Es ist eine ultrakomplexe, chaotische Struktur, die ›Seltsame Attraktoren‹ ausbildet. Ordnung entsteht von selbst, durch die Funktion an sich, aber sie ist nicht vorhersehbar. Das Zeug kennst du aus der Chaostheorie, aber welche Funktion es ist, kann ich nicht sagen. Warum fragen Laura und Sophie nicht einfach?«
Laura schüttelte nur den Kopf.
Gucky grinste verhalten. »Haben sie getan, Schlaumeier. Aber ihr Herr und Meister ist offenbar sprechfaul. Könnte das etwas mit NATHAN zu tun haben?«
»Zumindest habe ich so etwas nie zuvor gesehen – aber mein Kontakt zur Hyperinpotronik war nicht so intensiv, wie du offenbar glaubst. Ich muss mich gerade auf den Anflug konzentrieren. Sorry.«
Das Holo erlosch.
Gucky holte tief Luft. »Das war ... nicht hilfreich!« Er fixierte Merkosh. »Du hast nicht zufällig eine Ahnung, warum unsere Denkkugel das tut?«
Merkosh schnurpste gepresst. »Ich bin Mediziner, kein Roboterpsychologe oder Positroniker. Tut mir leid.«
»Ich frag ja nur ...«, murmelte der Ilt. Dann hob er den Kopf. »Der Anflug auf Lashat geht in die Endphase, höre ich gerade. Merkosh?«
Der Oproner drehte sich um und steckte den Injektor zurück in die Tasche. »Ja?«
»Deine zwei Torkadisten sind bereits vor Ort. Kommst du mit? Ich nehme an, wenn die Shafakk schlecht gelaunt sind, könnte eure Triole helfen.«
»Torkade«, raunte der Oproner. Mittlerweile wusste er, dass es wenig Sinn hatte, Gucky zu korrigieren.
Er nahm Guckys Hand. Der Ilt warf einen Blick auf Perry Rhodan. Ob es diesem durch die neuerliche Injektion besser ging, war nicht zu beurteilen. Immerhin hatte sich sein Atemrhythmus etwas beruhigt.
»Du bist unsterblich geworden, um vor mir zu sterben?«, hörte Laura Bull-Legacy den Mausbiber. »Wenn das nicht unfair ist ...«
Dann verschwanden die beiden.
Memento mori
Mit dem Tod habe ich nichts zu schaffen. Bin ich, ist er nicht. Ist er, bin ich nicht.
Epikur von Samos, Philosoph, 341–271 v. Chr.
Es ist ein eigenartiges Gefühl.
Die Welt schrumpft zusammen, immer weiter, bis sie gerade mal einen selbst umfasst. Alles andere, was einst die Welt ausmachte, verliert an Wichtigkeit, ja an Substanz.
Das da draußen ist nicht mehr von Belang.
Es ist beinahe lustig, aber bis vor Kurzem habe ich mir auf meinen weiten Horizont sogar etwas eingebildet. Ein älteres Lied fällt mir ein; eher eine kleine Sequenz daraus. Als Jugendlicher, vor vielen Jahrzehnten, hat es mich beeindruckt, ja sogar bewegt.
»Lonely we stumble 'to this life ... and the same way, we will leave!«
Verstanden habe ich es damals nicht. Mit zwanzig Jahren versteht man das meiste nicht – wie könnte es anders sein? Jugend ist keine Qualifikation.
Das Alter ebenfalls nicht, sage ich mir selbst. Gerade eben habe ich festgestellt, dass mein Horizont auf den Durchmesser dieses Zimmers geschrumpft ist.
Ich habe keine Schmerzen, zumindest keine, die ich wahrnehmen würde. Das ist ein Segen. Ich habe zu viele furchtbar leiden sehen, bevor es zu Ende ging. Was für eine Tragödie, wenn dies der letzte Eindruck ist, den man von seinem Leben hat!
Sonderbarerweise bin ich nicht neidisch auf andere, die länger gelebt haben werden. Atlan beispielsweise oder Mirona Thetin. Gerade die Liduuri ist alt auf eine Weise, die ich mir nicht mal im Ansatz vorstellen kann. Vielleicht ist ihre Distanz zu allem sogar nötig, um überleben zu können. Wer Dinge an sich heranlässt, leidet, wenn sie verschwinden. Und bei einem Alter von über fünfzigtausend Jahren verschwindet alles.
Was richtet das in einem Menschen an, alles und jeden zu verlieren? Diese Schmerzen sind so unerträglich, dass Mirona wahrscheinlich keine andere Möglichkeit blieb, wollte sie nicht wahnsinnig werden. Sogar normale Menschen werden bitter oder zerbrechen an der Vergänglichkeit – in einer normalen Lebensspanne. Normale Menschen mit einem normalen Leben sind für sie indes nicht von Belang. Sie hat es millionenfach gesehen, in all der Banalität, die das Leben häufig auszeichnet. Was für ein Widerspruch in sich ...
Vielleicht ist Medizinerhumor ein guter Vergleich. Der Mensch ist nicht in der Lage, das Leid der ganzen Welt zu tragen. Obwohl ... als große Humoristin taugt Mirona Thetin nicht.
Umso erstaunlicher ist, dass Atlan es geschafft hat, zu ihr durchzudringen. Aber das könnte daran liegen, dass er nach ihr der Älteste ist. Ein ähnlicher Erfahrungshorizont war sicher auch ein Grund.
Auf gewisse Weise sind die beiden so einsam wie ein Sterbender. Also so wie ich.
Ich vermisse Thora. Sie hätte mich auf dem weiteren Weg begleiten können. Das war ein Geschenk, das ich nun nicht annehmen kann. Sie wird allein weitergehen müssen, und genau das wird sie tun. Mit all ihrer Kraft, ihrer Überzeugung, ihrem Willen. Dennoch wäre ich gern mit dabei gewesen.
Ich spüre eher, als dass ich es sehe: Ich bin nicht allein in diesem Zimmer, aber ich nehme alles wie durch tiefdunkles Rauchglas wahr. Es trennt mich bereits von der Welt. Die Schwäche in mir ist Teil meines Selbst, aber ich empfinde sie nicht als bedrohlich. Sie wird mich von nun an begleiten.
Ganz so allein bin ich nicht, wie es scheint.
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