Peter Terrid

Mythor 23: Befehle aus der Schattenzone


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wurden die Opfer, grässlicher noch als der Tod, zu Mitwissern und Sklaven des Bösen gemacht?

      Nyala sah, wie sich Coerl O'Marn leicht krümmte. Was das bei diesem eisenharten Mann bedeutete, konnte sich jeder ausrechnen, der ihn kannte. Leistete der Ritter dem Dämon Widerstand, der durch den Dämonenkuss von ihm Besitz ergriffen hatte? Nyala wusste es nicht, aber sie fürchtete sich sehr davor, das Schicksal des Ritters zu teilen.

      Kalt fasste der Wind nach Nyala, verfing sich in ihren Kleidern und streifte ihre Haut mit eisigem Hauch.

      Eine düstere Welt nahm die beiden auf. Nirgendwo brannte eine Fackel, dennoch war es nicht dunkel. Ein seltsames Zwielicht herrschte, eine beklemmende Dämmerung, angesiedelt zwischen Nacht und Schatten, das die Konturen verschwimmen und unscharf werden ließ.

      Der Anführer des kleinen Zuges blieb stehen.

      Auch in diesem kurzen Augenblick der Ruhe konnten Nyalas Augen nichts von Bedeutung erfassen. Gianton schien mit Augen nicht begreifbar zu sein, überall nur Schemen, huschende Gestalten, aus dem Grau herauswandernd, im tristen Grau wieder verschwindend, lautlos dies alles.

      »Schafft ihn fort!«, gebot der Novize.

      Zwei seiner Untergebenen packten Coerl O'Marn bei den Armen.

      »Lasst ihn los!«, rief Nyala. »Wir gehören zusammen.«

      »Fort mit ihm!«, bestimmte der Anführer.

      Seine Stimme wurde auf geheimnisvolle Weise von einem gespenstischen Echo begleitet. Verzweiflung bemächtigte sich der Herzogstochter.

      Sie musste an sich halten, um nicht laut zu schreien, als sie zusah, wie Coerl O'Marn weggeführt wurde. Schon nach einigen wenigen Schritten war der Hüne im Dämmerlicht verschwunden.

      Nyala bedachte den Anführer der Caer-Priesteranwärter mit einer Reihe von Schimpfnamen, um die sich der Caer aber nicht kümmerte.

      »Schweig!«, herrschte er Nyala schließlich an. »Bereite dich vor auf ein Zusammentreffen mit Drudin.«

      Eisiger Schrecken schoss Nyala durch die Glieder.

      »Ich will zu meinem Vater«, rief sie. »Nicht zu Drudin.«

      Grauen schüttelte sie. War sie bestimmt für den Dämonenkuss, der sie für alle Zeiten aus der Schar der Menschen herausriss und in eine Zukunft voll grässlichen Schreckens stieß?

      »Du wirst deinen Vater sehen können, Weib«, sagte der Caer kalt. »Später.«

      »Wann später?«, fragte Nyala.

      »Wenn die Zeit dafür gekommen ist«, sagte der Caer.

      Von irgendwoher durchzitterte ein grässlicher Schrei die Luft, der Nyala bis ins Mark erschütterte, dann folgte ein zweiter Laut unerträglicher Qual.

      »Was ist das?«, fragte Nyala entsetzt. »Was klingt so?«

      »Du wirst es erfahren«, sagte der Caer.

      Er schritt voran. Das Geräusch seiner Schritte war nicht zu hören, auch die anderen Caer-Novizen bewegten sich fast ohne Geräusch. So war das beständige Klirren genau zu hören. Es klang nach schweren Ketten, nach eisernem Martergerät. Darein mischte sich auch helles Tönen, wie Glockenspiel klang es oder wie das Schlagen von Triangeln.

      Nyala wagte kaum zu atmen vor Grauen.

      Die Luft war erfüllt mit einem Geruch pestilenzialischer Süße, berauschend und ekelerregend in einem. Qual und Schmerz verriet dieser Geruch, Elend und größte Not. Es schien die Ausdünstung des Leidens zu sein, der Odem des Todes, der in diesem Ort eine Heimstatt hatte.

      Fast willenlos ließ sich Nyala durch die verwinkelten Straßen der Titanenstadt führen. Kreuz und quer schienen die ungefügen Quader zu liegen, mal hochkant, mal quer, Stufen führten in die Tiefe und wenig später krumm und winkelig wieder in die Höhe. Es gab keinen Punkt, an dem der Blick sich hätte festhalten können, nur eine Dämmerwelt, deren Bestandteile sich jedem Zugriff entzogen. Bald wusste Nyala nicht mehr, ob sie aufwärts ging oder abwärts schritt.

      Für einen kurzen Augenblick dachte sie an Mythor, der fern von ihr war, dann aber kehrten ihre Gedanken zurück in die grauenvolle Wirklichkeit der Titanenstadt.

      Unvermittelt blieb der Anführer der Caer stehen. Er streckte die Hand aus.

      »Dorthin«, sagte er.

      Jedes Wort, das fiel, bereitete Nyala Unbehagen. Sie fühlte, dass sie immer tiefer verstrickt wurde in Dinge, die sie nicht verstand, nicht verstehen wollte. Was sich in diesen düsteren Klüften der Titanenstadt vollzog, war nicht gedacht für die Welt draußen, in der es auch Sonnenschein und Frohsinn gab. Dumpfe Bedrückung war die vorherrschende Stimmung in der Stadt der Caer.

      Einer der Novizen trat vor. Kreischend bewegte sich Metall, eine Tür schwang auf.

      »Hinein!«, gebot der Caer.

      »Nein«, sagte Nyala. Sie hob abwehrend beide Hände. Niemand reagierte darauf. Nyala begriff, dass es gegen die Befehle der Caer keine Widerrede gab, dass sie alles würde tun müssen, was man ihr auferlegte. Sie trat vor.

      Ein paar krumme Stufen, fleckig von irgendeiner darauf vergossenen Flüssigkeit, führten in ein schwarzes Gewölbe hinab, eine Gruft in dieser seltsamen Stadt Gianton. So jedenfalls fühlte sich Nyala – als würde sie aufgefordert, freiwillig das eigene Grab zu betreten.

      »Nein«, sagte Nyala flehentlich. Wieder gab es keine Reaktion der Caer.

      So stieg sie dann hinab in die drohende Schwärze, die Stufen hinunter, und sie wusste, dass niemand ihr folgte. Dann hörte sie wieder das hässliche Kreischen der Angeln, das harte Poltern des Türholzes, dann das Klirren, mit dem sich der schwere Schlüssel im Schloss drehte. Ein harter, kurzer Befehl, unverständlich gemacht durch die Dicke der Tür, dann noch einmal leises Waffenklirren.

      Stille brach über sie herein, die Stille des Grabes.

      Kein Laut war zu hören, nur das hämmernde Pochen ihres Herzens, die hastigen, angsterfüllten Atemzüge.

      »Wo bin ich?«, fragte Nyala. Sie wollte nur die eigene Stimme hören, aber sie erschrak über den gespenstischen Widerhall ihrer Stimme in dem Raum.

      Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das seltsame, erschreckende Licht.

      Der Raum war eckig, aber es war kein richtiger Grundriss zu erkennen. Er setzte sich vielmehr aus einer Unzahl gerader Flächen zusammen, als Schrägen in jeder nur denkbaren Richtung. Ein Ort des Grauens, Nyala spürte es am eigenen Leib. Die Wände waren feucht, schwerer Modergeruch lagerte im Raum, und es war kalt.

      Dennoch wusste Nyala nicht, ob sie vor Kälte oder aus Angst zu beben begann.

      Im schwachen Licht der Finsterstadt Gianton erkannte sie Zeichen auf den steinernen Wänden, verschwommene Konturen auf dem feuchten Fels, mit den Augen gerade noch erkennbar.

      Nyala trat näher. Sie streckte die Hände nach einem der Zeichen aus.

      Kalt war der Fels, und die Kälte schien aus der Wand heraus in ihren Leib zu strömen, machte sie schaudern. Dennoch folgte sie mit den Fingerspitzen den eingegrabenen Linien. Es waren Schriftzeichen, zum Teil jedenfalls, aber Nyala verstand nicht genug davon, um sagen zu können, was die Zeichen besagten.

      Sie vermochte nur zu ahnen, was mit den Linien ausgedrückt werden sollte, und dies zu spüren, bedurfte es keiner großen Einfühlsamkeit. Was konnte an den Wänden eines feuchtkalten Kerkers anderes geschrieben stehen als die stumm gewordenen Schreie derer, die vor Nyala hier geschmachtet hatten.

      Nyala tastete sich durch den Raum. Er war nicht groß, maß höchstens drei Schritte im Geviert. Es gab eckige Löcher in den Wänden. Durch einige blies der kühle Wind in den Raum, gesättigt von den Ausdünstungen der Stadt des Grauens, jenem ekelhaft anziehenden, betäubenden Geruch, der in Nyalas Nase hing, seit sie Gianton betreten hatte.

      Nyala tastete den Boden ab.

      War man besonders rücksichtsvoll