Erneuerung« bekannte Christengemeinschaft als eine Art überkonfessionelle, von den bestehenden Kirchen unabhängige und den Sakramenten in neuer Form verpflichtete Gemeinschaft des religiösen Lebens. Im Zentrum stand und steht die erneuerte Messe, und um sie herum begannen die sechs anderen Sakramente als lebensbegleitende »Verwandlungstaten« in der Biografie der Menschen bei unterschiedlichen Anlässen zu wirken: Taufe, Konfirmation, Beichte, Letzte Ölung, Trauung und Priesterweihe.
Die Beichte – in ihrer katholischen Geschichte oft schwer belastet und daher mitunter als unzeitgemäß empfunden – nimmt dabei eine Sonderstellung ein. Anders als die anderen Sakramente ist sie in ihrer Übung nicht etwas mehr oder weniger Einmaliges, sondern kann ganz ausdrücklich lebensbegleitend sein in ähnlichem Sinne wie die Messe, die in der Christengemeinschaft die »Menschenweihehandlung« genannt wird. Zwar muss der religiös handelnde Mensch sie nicht in sein Leben integrieren und schon gar nicht regelmäßig empfangen. Die Verbindung mit diesem Sakrament ist von völliger Freiwilligkeit geprägt. Sie ist aber darauf angelegt, dass sie bei Bedarf immer wieder – gewissermaßen biografiebegleitend – geübt werden kann. Sie dient nicht einer konkreten »Sündenvergebung«, der Beichtende bekommt nicht etwa eine Absolution für sein bisheriges Tun. Deshalb muss er natürlich auch keine Sünden oder Verfehlungen bekennen. Diese werden schlicht als Grundtatsache des Menschseins vorausgesetzt, bis in den Text der Messe hinein, sind aber nicht der eigentliche Anlass dafür, ein Beichtgespräch zu suchen. Vielmehr geht es darum, den roten Faden des Lebens zu suchen, immer mal wieder, und dabei genauer anzuschauen, was mich gerade jetzt weiterbringen kann auf meinem individuellen Weg.
Der Vollzug ist denkbar einfach. Es wird ein Gesprächstermin vereinbart, meist in einem ruhigen Raum, immer vor einem Christusbild und einer Kerze. Das Gespräch führt der Zelebrierende meist zunächst in Zivil. Es kann aber auch das Ornat gewählt werden, denn manchmal erleichtert das eine gewisse Objektivität. In anderen Fällen stört es eher. Die Rolle des Priesters ist eine hörende. Gefragt ist kein Therapeut, kein Coach, kein Ratgeber, sondern die oder der Beichtende spricht sich vor dem Christus aus, der durch die Ohren des Zelebranten, der Zelebrantin zuhört.
Am Schluss werden die Gewänder angelegt und es wird ein Spruch, Gebet, Segen gesprochen, dessen Wortlaut wie alle Rituale der Christengemeinschaft durch Rudolf Steiner vermittelt wurde. Es sind sieben Zeilen, die mündlich aufgenommen werden sollen und deshalb hier nicht wortgetreu wiedergegeben werden. Man kann sie aber durch gutes Hinhören meist bald auswendig, wenn man das Beichtsakrament ein paar Mal erlebt hat. Das allerdings geht nur im eigenen Üben – niemand Drittes ist dabei, kein Ministrant, kein Zeuge – außer dem Zelebranten, der Zelebrantin. Am Ende geht der oder die Beichtende gestärkt durch den Zuspruch des Christus, der im Wortlaut des Sakramentes aufleuchtet, und durch die folgende Individualkommunion hoffentlich gesünder in sein Leben. Insofern ist das Beichtsakrament – wie auch die Nebenübungen – dem Gedanken der Salutogenese, der harmonischen Lebenshaltung, der geistig-seelischen Gesundheit verpflichtet.
Dass die Gedankenfolge im Wortlaut des Beichtsakramentes in eigentümlicher Weise mit den Übungen verwandt ist, die Rudolf Steiner seinen Geistesschülern viele Jahre vorher als Begleitung des meditativen Lebens empfahl, ist zunächst nicht offensichtlich. Die Nebenübungen kenne ich seit etwa vierzig Jahren und habe sie die meiste Zeit davon auch mehr oder weniger – wenn auch meist eher periodisch – intensiv geübt. Das Beichtsakrament pflege ich als Beichtende seit fast dreißig Jahren. Die letzten zwanzig Jahre habe ich als Priesterin auch zahlreiche Beichten hören und mit dem Spruch abschließen, das heißt zelebrieren dürfen. Aber erst in der Corona-Zeit, in der erneuten verstärkten Arbeit an den Nebenübungen, die mir jetzt geboten erschien, tauchte das Thema der Verwandtschaft zum Beichtspruch auf. Diese kleine Entdeckung, die ich bestimmt nicht als Erste machen durfte, die für mich aber so überraschend wie erhellend war, hat dazu geführt, dass meine Gemeinde-Briefe zu den Nebenübungen entsprechend um Betrachtungen zum Beichtsakrament erweitert wurden.
In etwas ausführlichere Form gebracht, können sie nun auf vielfachen Wunsch als kleines Vademecum für die Bewältigung verschiedenster Herausforderungen des Lebens herausgegeben werden.
»Bittet, und es wird euch gegeben;
suchet, und ihr werdet finden;
klopfet an, und es wird euch aufgetan.
Denn jeder, der bittet, empfängt;
und wer sucht, der findet;
und wer anklopft, dem wird aufgetan.«
Matthäus 7,7-8
1. Brief – Gedanken zum neuen Alltag
Von der Bedeutung des Übens
Eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit: Wir wachen jeden Tag in einer neuen Welt auf. Aber derzeit ist das Aufwacherlebnis für viele von uns ein bisschen surreal. Ist das alles nicht nur ein wirrer Traum? So viele Alltäglichkeiten, die ins Wanken geraten, so viel Selbstverständliches, das mir zu entgleiten droht … Was immer ging, geht plötzlich nicht mehr, völlig ungeahnte Handlungen werden selbstverständlich, und vieles, was ich noch nie gedacht habe, dringt in mein Bewusstsein ein. Wie gehe ich damit um?
Plötzliche Veränderungen können sehr verunsichernd sein, wenn ich eigentlich mit der Lebenshaltung unterwegs bin, dass alles im Wesentlichen immer gleich bleiben wird, gleich bleiben soll – es sei denn, dass ich es verändern will. Was ich gelernt habe, die Gemütshaltungen, die ich mir angewöhnt habe, der Alltag, in den ich mich eingelebt habe – sie mögen bitte auch tragen!
Eine von außen herbeigeführte Veränderung kann aber auch fast schon beruhigend sein, wenn ich Sehnsucht danach habe, dass sich in einer allzu festgefahrenen, bequemen und durchaus auch dekadenten Welt endlich Grundlegendes ändern muss. Vielleicht wird das Ungewohnte mir und uns dabei zur Hilfe werden?
Und je nachdem, ob ich mit Mut und Zuversicht, mit Vertrauen und Glauben an das Gute in die Welt schaue oder mit Skepsis, festen Urteilen und Resignation, sehe ich dann auch unterschiedlich auf die Veränderungen des Tages. Das Glas ist längst halb leer – oder schon halb voll?
Rudolf Steiner beschreibt als Voraussetzungen eines geistigen Lebens verschiedene Übungen, die eine zentrale Stellung einnehmen, wenn unser inneres Leben gesund und unsere Wahrnehmung der Welt eine wahrhaftige sein sollen. Vieles von dem da zu Übenden kommt auch im Evangelium vor, namentlich in der Bergpredigt, und will uns auch dort den Weg zum höheren Ich, zu größerer innerer Autonomie weisen, den man auch den Weg zum »Christus in mir« nennen kann. Die Mystiker des Christentums haben in ähnlicher Weise einen inneren Weg beschrieben als die »Nachfolge Christi«. In seinem Schulungsbüchlein gleichen Namens schreibt Thomas a Kempis:
»Je größer und tiefer dein Wissen um die Dinge ist, desto strenger wirst Du gerichtet werden, wenn dein Leben nicht gerade um so viel heiliger gewesen sein wird, als deine Einsicht besser war.«2
Wie kann es uns gelingen, dass wir uns an der Krise nicht nur zu immer stärkeren Meinungen und Überzeugungen, sondern zu einer Einsicht entwickeln, in der das Menschsein im Mittelpunkt steht? Wie kann uns die derzeitige, immer wieder neue Lebenssituation dienen, um auf unserem inneren Weg ganzheitlich weiterzukommen? Dazu möchte ich in diesem Auftakt-Brief und dann in loser Folge in weiteren kleinen Artikeln einige Beobachtungen und Anregungen aufschreiben. Dabei ist mein Ausgangspunkt und die Ordnung meiner Gedanken in erster Linie die Beschreibung der Nebenübungen, aber es werden mit der Zeit auch andere, eher religiöse Aspekte hinzukommen, die ich zum Teil den Anregungen anderer und zum Teil eigenen Erfahrungen verdanke. Hier zunächst eine Art Überblick als erste Bestandsaufnahme:
1.
Gelingt es mir, meine Gedanken zusammenzuhalten, zum Beispiel im Gebet, in der inneren Arbeit, der Meditation, aber auch in der ganz gewöhnlichen Arbeit oder in einem Gespräch? Kann ich ihnen eine Richtung geben, ohne mich ständig ablenken zu lassen? Das ist gar nicht so einfach in diesen besonderen Zeiten, in denen wir so viele »Sorgen« haben! Was ist das: das Wesentliche? Die Sorgen um den sich verändernden Alltag, die dahinschwindenden Sicherheiten auf vielen Gebieten bringen mich einerseits in Gefahr, fahrig und