Klingelknöpfen steht nämlich kein einziger Name. Woher soll sie wissen, welchen der acht Knöpfe sie zu drücken hat? Wie peinlich wäre ein ungewollter Klingelstreich – erstens würde sie zu so später Stunde stören, zweitens könnte sie sich gar nicht erklären, sie spricht ja kein Chinesisch, und drittens könnte sie mit all dem Gepäck nicht einmal wegrennen.
Nun beginnt es auch noch zu regnen. Sophie zittert in ihrer dünnen Strickjacke. Schon im Bus war ihr aufgefallen, dass sie wohl die falsche Garderobe eingepackt hat. Um sie herum saßen alle mit dicken Wintermänteln und Schals. Sophie schaut am Haus hoch. Ihr Blick gleitet an den vergitterten Fenstern und Balkonen entlang. Dazwischen drücken sich rankende Pflanzen ins Freie. Blumenkübel hängen an den Geländern und auf dem Dach strecken sich kleine Bäume neben Wasserkanistern in die Höhe. Sophie beginnt die Etagen abzuzählen, denn laut Adresse soll Chen Zi-ting in der dritten Etage wohnen. In beiden Wohnungen in der dritten Etage brennt kein Licht. Sophie ist verzweifelt, sie muss nun wohl oder übel jemanden aus dem Schlaf reißen.
»Nun bleibt nur noch die Frage, ob rechts oder links«, murmelt sie bei sich, »Ene, mene muh, raus bist …«
»Nĭ hăo! Nĭ hăo! Sophie dào le!«
In der zweiten Etage entdeckt sie auf dem Balkon eine Frau. Vor Sophies innerem Auge erscheint das Profilfoto auf der Couchsurfing-Seite: eine junge Frau, die lächelt und dabei ihre Augen ganz weit öffnet, die Backen aufbläst, den Kopf schief legt und sich mit dem Zeigefinger in die rechte Backe pikst. Schwer zu sagen, ob das Chen Zi-ting da oben ist. Aber sie muss es wohl sein, denkt Sophie, denn die Frau da oben kennt ja ihren Namen. Nur, warum ist sie in der zweiten Etage? Das Türschloss summt und Sophie steigt die Treppen hinauf.
»Hello Chen! I am very very sorry that I am so late«, entschuldigt sich Sophie.
»Not late at all! It’s only 11.30!«, zuckt die Gastgeberin mit den Schultern. »Just don’t call me Chen. That is my family name. Call me Zi-ting or by my English name Queenie.«
Die schlanke junge Frau tritt zur Seite, um Sophie hereinzulassen.
»I already learned some Chinese: Dào le!«, verkündet Sophie froh und entledigt sich im Flur ihrer Schuhe und ihres Gepäcks. Queenie bläst die Backen auf, aber ohne dabei königlich zu lächeln wie auf ihrem Profilfoto.
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Anderes Land, andere Zeiten und andere Orte.
Was Sophie als ein Fettnäpfchen gefürchtet hat, nämlich ihre späte Ankunft bei Chen Zi-ting, ist gar keins: Taiwaner bleiben lange auf. Sie sind regelrechte Nachteulen. Vor Mitternacht gehen sie selten zu Bett. Selbst Kleinkinder sieht man oft noch abends nach neun Uhr auf der Straße. Schulkinder bleiben oft bis nach elf Uhr munter, wegen der ganzen Hausaufgaben und Nachhilfekurse – und nicht selten auch wegen Computerspielen.
Bei den Orten hätte sich Sophie aber fast vertan: Sie hat die Etagen falsch gezählt und hätte deshalb auf jeden Fall die falsche Klingel betätigt, wenn sie Chen Zi-ting nicht bemerkt hätte. Das Erdgeschoss zählt, wie in einigen asiatischen Ländern, auch in Taiwan als die erste Etage. Die zweite Etage in Deutschland ist also umgerechnet die dritte Etage in Taiwan.
Die zweite örtliche Verfehlung führte dann in ein Fettnäpfchen: Sophie hat erst in der Wohnung die Schuhe ausgezogen. Aber was in Deutschland meistens im Hausflur passiert, das macht man in Taiwan noch, bevor man die Wohnung oder das Haus betritt.
Was können Sie besser machen?
Taiwanische Wohnungen haben oft keinen Flur, geschweige denn eine Garderobe, und so bleiben die Schuhe oft einfach vor der Wohnungstür liegen. Bevor Sie die Wohnung betreten, sehen Sie sich nach herumliegenden Schuhen vor der Tür um und stellen Sie Ihre einfach dazu. Sollten sie keine anderen Schuhe entdecken, fragen Sie Ihren Gastgeber. Ziehen Sie sie im Zweifelsfall aber lieber zu früh aus als zu spät. Sind Sie dann barfuß in der Wohnung, reicht der Gastgeber Ihnen sofort Pantoffeln.
Auch vor der Toilette findet oft ein Schuhwechsel statt: die Hausschuhe werden ausgezogen und man schlüpft in Gummipantoffeln, die gleich an der Badezimmertür stehen. Da es oft kein Duschbecken gibt und der Boden lange feucht bleibt, trägt man die Nässe so nicht mit in die restliche Wohnung.
Wenn Sie jemanden besuchen, haben Sie stets die Handynummer dabei, damit Sie ihn anrufen können, wenn Sie vor der Tür stehen. Taiwaner schreiben nämlich aus Angst vor Betrügern nie ihren Namen an das Klingelschild. Sollten Sie jetzt den Eindruck haben, dass Taipeh eine unsichere Stadt ist, besonders wenn Sie auch noch an die vergitterten Fenster und Balkone denken, dann liegen Sie falsch. Taipeh und Taiwan erscheinen in den Rankings der sichersten Städte und Länder stets ganz weit oben.
說到 … APROPOS … LEBEN AUF ENGSTEM RAUM
Sophie erfährt bereits auf dem Flughafen zum ersten Mal, was es bedeutet, auf einer dicht besiedelten Insel zu leben: hoher Lärmpegel und viel Körperkontakt. Die in vielen Statistiken erscheinende Bevölkerungsdichte von 642 Einwohnern pro Quadratkilometer ist irreführend, denn der Großteil Taiwans besteht aus einer unbewohnbaren Berglandschaft in der Mitte. Nur der »Rand« der Insel ist bewohnbar. In der Hauptstadt Taipeh schätzt man 9.600 Einwohner pro Quadratkilometer, und die wollen selten alle zu Hause bleiben. Ausgehen und vor allem Reisen sind beliebte Arten des Zeitvertreibs.
Man sollte annehmen, Taiwaner, da von Geburt an nicht anders gewohnt, haben ein Gefühl dafür entwickelt, auf engstem Raum zusammenzuleben. Dem ist aber nicht unbedingt so. Trotzdem trifft man stets auf eine japanische Höflichkeit und Überkorrektheit. Vielleicht sind die fehlende Rücksicht und Geduld ja ein Überlebensinstinkt oder eine Art der Durchsetzung, um nicht im Meer der 23,4 Millionen Einwohner unterzugehen.
說到 … APROPOS … WETTER
15 Grad klingen vielleicht nicht kalt, fühlen sich aber in Taiwan wesentlich kälter an als in Deutschland. Schuld daran ist die hohe Luftfeuchtigkeit, die das ganze Jahr um die 80 Prozent liegt. Diese Feuchtigkeit erhöht das Kälteempfinden. Kommt dann auch nur ein leichter Wind dazu, wird es richtig ungemütlich, denn der bläst die warme Luft aus der Kleidung.
In Taipeh regnet es durchschnittlich an 165,5 Tagen pro Jahr. Damit liegt Taipeh sogar noch vor London mit seinen 156,2 Regentagen. Das hat damit zu tun, dass Taipeh in einem Becken liegt, umgeben von hohen Bergen, worin dann die Regenwolken und im Sommer sogar ganze Gewitter sozusagen hängen bleiben. Deswegen ist das Wetter in Taipeh immer wesentlich schlechter als im Rest Taiwans. Dazu kommt, dass der nördliche Wendekreis Taiwan klimatisch in zwei etwa gleich große Teile teilt: in Tropen mit trockenem Klima im Süden und Subtropen mit feuchtem Klima im Norden.
4
不行啊! – BÙXÍNG A! – DAS GEHT DOCH NICHT!
GEMEINE SÄTZE NETT GEMEINT
Sophie blinzelt in die Sonne, die durch das Fenster im Wohnzimmer auf die Sofadecke fällt. Schon ein komisches Gefühl auf einer fremden Couch und noch dazu in einem fremden Land wach zu werden, denkt sie. Die Uhr am Fernseher zeigt erst sechs Uhr an, aber so richtig will das mit dem Schlafen nicht mehr klappen. Zu sehr lockt die neue Welt da draußen. Sophie steht auf und tritt ans Fenster. In der kleinen Gasse unter ihr eilen Gruppen von Kindern laut lachend in Uniform zur Schule. Ein Kleintransporter mit Lautsprecher lärmt durch die Gasse. Am Rand stehen Mopeds dicht an dicht, sodass oft nicht einmal eine Hand dazwischen passen würde. Eigentlich ist alles grau und vergittert, behangen mit den Kästen der Klimaanlagen und durchzogen mit schwarzen, zerzausten Elektroleitungen. Der Regen der letzten Nacht hat nasse Stellen an den Mauern und auf den Straßen hinterlassen.
Trotz alledem ist es ein lieblicher Anblick. Die Sonne schafft es zwischen den Häusern bis auf den Asphalt hinunter, auf dem mit breiten, weißen und gelben Strichen chinesische Zeichen geschrieben stehen. Die Pfützen sind fast verschwunden.