Anja Obst

Fettnäpfchenführer China


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war auch die Zahl der Ausländer in China, ob Residenten, Geschäftsleute oder Touristen.

      Mit anderen Worten, das Ausland war ein rotes Tuch und Informationen darüber dürftig oder negativ.

       DIE GROSSE PROLETARISCHE KULTURREVOLUTION

      Als Mao Zedong 1966 diese ›Aufräumaktion‹ startete, war sein Bestreben, die VR China von Kapitalisten, Intellektuellen und Freidenkern zu säubern. Niemand konnte ahnen, in welches Chaos das Land getrieben werden sollte. Jeder lief Gefahr, als Konterrevolutionär eingestuft und verhaftet oder gar getötet zu werden – auch wenn er sich vorher als Kommunist bewährt hatte.

      Viele nutzten die Chance, den verhassten Nachbarn oder Lehrer zu denunzieren. Dafür reichte es, dass dieser ein amerikanisches Buch oder eine Schallplatte von Beethoven besaß. Schüler und Studenten schlossen sich zu den ›Roten Garden‹ zusammen, schlugen im Namen der Revolution Verdächtige nieder, brannten deren Häuser ab und hinterließen eine Schneise der Zerstörung.

      Viele Unschuldige kamen dabei zu Tode oder waren für den Rest ihres Lebens gebrandmarkt. Schulen und Unis wurden geschlossen, die Wirtschaft lag brach. Selbst der Verkehr sollte angepasst werden: Bei roten Ampeln anzuhalten, widersprach der marxistischen Logik, entsprechend sollte diese Farbe nun für freie Fahrt stehen. Doch als die Fanatiker einen drastischen Anstieg von Verkehrsunfällen beobachteten, da natürlich viele aus Gewohnheit weiter bei Grün über die Straße fuhren, ließen sie von dieser Änderung wieder ab.

      Erst nach zehn Jahren, mit dem Tod Mao Zedongs, war der Spuk schließlich vorbei.

      Heutzutage ist dies natürlich nicht mehr der Fall, und mittlerweile leben unzählige Ausländer in China. In größeren Städten wie Peking und Shanghai gehören sie daher zum normalen Stadtbild und erregen nur noch selten Aufsehen unter der einheimischen Bevölkerung. Doch schon ein paar Kilometer außerhalb der Stadtgrenzen stößt die ›Langnase‹, wie die Ausländer noch immer gerne genannt werden, auf ungläubige Augen und pure Neugierde. In die Tiefen der Provinzen verirren sich eben die wenigsten.

      Dort lebende Chinesen haben wahrscheinlich noch nie einen blonden Menschen gesehen. Die Wanderarbeiter, die sich um Peter formatiert hatten, gehören auch dazu. Sie haben sich noch nicht daran gewöhnt, Kulleraugen und helle Haare zu sehen. Geschweige denn mit diesen fremdländischen Wesen zu reden. Und wo sie schon so anders aussehen, müssen sie ja auch ganz anders sein. Dies gilt es, herauszufinden. Mit den immer gleichen Fragen.

      Trotz vieler Berichte im Fernsehen oder in Zeitungen über Ausländer wird ein persönliches Zusammentreffen mit der Möglichkeit, viel über ihn zu erfahren, noch immer gerne ausgenutzt. Die Fragen, die, wie abgesprochen, von jedem Chinesen gestellt werden, beziehen sich fast alle auf das persönliche Leben, da die Antworten dann Vergleiche mit dem eigenen Leben zulassen. Und sie geben Aufschluss über die Gepflogenheiten eines anderen Landes. Eine unverheiratete Frau über 30? Ein alleinstehender Mann mit Kind? In China etwas Besonderes!

      Wer ein wenig in das Land eindringt, fern von den touristischen Trampelpfaden, muss damit rechnen, dass sich Menschentrauben um einen herum bilden. Ähnlich wie die kleine Gruppe Wanderarbeiter um Peter. Wir Europäer sind eben genauso exotisch für sie wie die Asiaten für uns.

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       TIĚ CHǓ CHÉNG ZHĒN1

      铁杵成针

      Das Leben im Wohnheim gefällt Peter eigentlich ganz gut, und dass er sich Toilette und Bad mit anderen teilen muss, ist nur halb so schlimm. Was ihn aber wirklich stört, sind die Temperaturen in seinem Zimmer. Sein Thermometer zeigt sechzehn Grad an, kein Wunder, dass ihm die Finger beim Schreiben fast abfrieren. Seine Beschwerde beim Wohnheimbüro hat nicht viel genützt, sechzehn Grad sei die gesetzliche Mindesttemperatur, er solle wiederkommen, wenn nur noch fünfzehn Grad seien.

       ÜBRIGENS

      Nicht nur die Innentemperatur ist, wie die Dame vom Unibüro außerdem erklärte, in China gesetzlich geregelt, auch die Heizperiode. Die Heizphase beginnt am 15. November und endet am 15. März. Dabei ist es vollkommen egal, wie kalt es draußen ist. So kann es gut passieren, dass die Bewohner bei laufender Heizung die Fenster aufreißen, weil sie es vor Hitze nicht mehr aushalten. Öfter ist es aber eher so, dass man sich mit Mantel und Mütze zum Abendbrot setzt, um nicht beim Essen zu frieren. Dazu gibt es noch eine geografische Grenze für Heizungen: Nördlich des Yangtze-Flusses gibt es sie, südlich davon nicht. Selbst wenn die Temperaturen in Südchina selten unter 10 Grad fallen, kühlen die Wohnungen doch aus, und den Chinesen bleibt nichts anderes übrig, als im Zwiebellook herumzulaufen. Draußen ist es dann oft angenehmer als im eigenen Wohnzimmer. Neue Wohnungen verfügen heutzutage aber über eine Klimaanlage, die im Winter für Wärme sorgen kann.

      In seiner Verzweiflung inspiziert er gründlich den Heizungskörper, versucht, an jedem Rädchen zu drehen, fühlt die oberen und die unteren Rohre und stellt dann fest: Unten ist die Heizung einigermaßen warm, oben aber ganz kalt. Sie ist bestimmt nicht entlüftet.

      Doch auch nach erfolgreicher Entlüftung kann Peter keinen Unterschied feststellen. Er geht also erneut zum Wohnheimbüro und berichtet über den Zustand der Heizung.

      Ob nun sein Tatsachenbericht Erfolg brachte oder die Sekretärin fürchtete, er käme jetzt jeden Tag zum Beschweren, weiß er nicht. Jedenfalls stehen kurze Zeit später drei Handwerker vor seiner Tür. Einer von ihnen beginnt, an der Heizung etwas ab- und wieder anzumontieren, während die anderen interessiert das Zimmer des Ausländers begutachten.

      »In zwei Tagen müsste die Heizung heiß sein«, macht der Monteur Peter noch Hoffnungen, bevor die Handwerker das Zimmer wieder verlassen.

      Schnell ist es gegangen, freut sich Peter. Doch freut er sich nicht lange. Nach zwei Tagen passiert nämlich gar nichts, im Gegenteil, die Heizung ist noch kälter. Und zu seinem Entsetzen entdeckt Peter ein kleines Loch im Heizkörper. Leise zischend entweicht das Wasser in einem kaum sichtbaren Strahl.

      Die Sekretärin rollt mit den Augen, als Peter wieder vor ihr steht, verspricht aber, die Handwerker erneut vorbeizuschicken.

      Diese rücken diesmal zu viert an, einer mit einer großen Rohrzange in der Hand. Das Werkzeug lässt der Träger missmutig sinken, als er den Schaden betrachtet. Das Loch kann er damit nicht reparieren. Er wäre aber kein echter Chinese, nähme er die Herausforderung nicht an, eine entsprechende Lösung zu finden.

       ÜBRIGENS

      In staatlichen Firmen oder Organisationen gibt es oft eine kleine Schar von Handwerkern, die auch immer gemeinsam Schäden beheben. Nicht, weil es so kompliziert ist, sondern weil sie oft einfach nicht besonders viel zu tun haben und sich langweilen. Dann ist es doch viel spannender, wenigstens den anderen bei der Arbeit zuzusehen.

      »Die Heizung muss ausgetauscht werden«, schlägt Peter vor.

      Der Monteur schüttelt mit dem Kopf, kniet sich vor das sprudelnde Wasser und überlegt. Aber keinesfalls wortlos. Alle vier Handwerker fachsimpeln lautstark über die Reparatur.

      Peter, der dachte, er verstünde eh kein Wort des Klempnerchinesischs, überhört dabei Wörter wie kuàizi, Essstäbchen, und fēn, die kleinste Münze der chinesischen Währung. Fragend schauen ihn die Handwerker an.

      Ach so, ob er so etwas habe? Natürlich! In einer Schale findet Peter eine Münze und in der Wohnheimküche gibt es Einwegstäbchen.

      Während ein Handwerker sich daran macht, Splitter aus dem Essstäbchen zu häckseln, biegt ein anderer die Münze mit der Zange um. Die beiden anderen wiederum schauen sich ungeniert im Zimmer um, begutachten Fotos an der Wand, stöbern in dem kleinen Bücherregal und betrachten interessiert den großen Gymnastikball, den Peter statt eines Schreibtischstuhls benutzt. Der junge Deutsche ist