Veronika Wengert

Fettnäpfchenführer Russland


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womöglich. Ansonsten ist das doch eine europäische Großstadt, wie jede andere auch. Auf alle Fälle ist es eine große Herausforderung für mich, denn in Osteuropa war ich noch nie zuvor!

      Z | Haben Sie denn gar keine Angst, einfach so nach Moskau zu ziehen? Man liest ja immer wieder Schauermärchen ...

      PM | Das stimmt. Also, um ehrlich zu sein: Ein wenig mulmig ist mir schon zumute, vor allem wegen der Mafia, den Oligarchen und der Kälte, ich bin da sehr empfindlich. Andererseits sollen ja die Russen so gastfreundlich und herzlich sein. Das wird sicher eine ziemlich spannende Zeit!

      Z | Hatten Sie denn schon mal Kontakt mit Russen?

      PM | Ja, ich hatte hier in Karlsruhe mal sehr nette Nachbarn. Ein russisches Ehepaar: Konstantin, genannt Kostja, und seine Frau Anja. Anja ist im Russischen die Verniedlichungsform von Anna. Die beiden haben zwei Jahre nebenan gewohnt und mich auch mal zu sich eingeladen. Anja konnte so unglaublich gut kochen! Sie wissen schon, Borschtsch und so. Das war aber eigentlich mein einziger Kontakt zu Russen, zumindest bis jetzt. Ich hoffe mal, dass alle so gastfreundlich und herzlich sind?!

      Z | Können Sie denn überhaupt Russisch? Immerhin schreiben die Russen ja auch ganz anders als wir!

      PM | Ich hatte hier ein paar Wochen Russischunterricht, werde aber in Moskau noch weiter lernen. Die kyrillische Schrift ist wirklich nicht so einfach, aber einzelne Wörter kann ich schon entziffern. Zudem bekomme ich vor Ort eine Dolmetscherin und Assistentin, sie heißt Natascha. Vor allem bei Verhandlungen wird sie mich begleiten. Das wird also schon irgendwie klappen mit der Verständigung. Außerdem spreche ich ja Englisch und natürlich Deutsch.

      Z | Und was sagen Ihre Bekannten zu Ihrem beruflichen Abenteuer?

      PM | Meine Freunde haben wirklich fast ein wenig Angst um mich. Sie haben mich schon gewarnt, dass ich mich vor Bären und Wodka hüten soll, also mir die ganze Klischeepalette aufgezählt. Aber meine Entsendung ist ja nur für zwei Jahre, dann komme ich wieder in unser schönes Karlsruhe zurück!

      Z | Wie werden Sie wohnen?

      PM | In Moskau muss ich mir noch eine passende Wohnung suchen. Das habe ich nicht meinen Angestellten oder meinem Vorgänger Jakob Lehmann überlassen, der ja nun in Rente geht. Da will ich mich selbst umsehen. Zunächst bin ich im Hotel untergebracht.

      Z | Werden Sie auch reisen?

      PM | Gelegentlich werde ich auch Dienstreisen nach Sibirien und anderswohin unternehmen müssen. Wir stehen erst am Anfang unserer Aktivitäten in Russland und müssen mit vielen Kooperationspartnern und möglichen Zulieferern verhandeln. Für Sibirien habe ich mir die dicksten Ski-Unterhosen gekauft, die es in Karlsruhe gab, denn eigentlich bin ich schon eher ein verfrorener Typ.

      Z | Herr Müller, dann wünschen wir Ihnen eine gute Reise und bedanken uns für das Interview!

      1

       HERR MÜLLER GEHT AUF TUCHFÜHLUNG

      Auf diese Begegnung ist Paul Müller nun überhaupt nicht vorbereitet. Russland tritt, zumindest in diesem Augenblick, recht unerwartet in sein Leben. Und das in Form eines Bären! Mit dickem Fellkragen und einer Pelzmütze, die sicher so groß wie ein Wagenrad ist. Doch was für eine seltsame Gattung!? Weder brummt der Bär, noch stößt er sonst einen Laut aus. Und ausgehungert wirkt er schon dreimal nicht!

      Stattdessen schiebt der Bär seinen mächtigen Körper einfach vor Herrn Müller, um ihm die Sicht auf einen Fuchspelz zu versperren. Antippen? Vermutlich würde ihn der Bär kurzerhand zerfleischen, mitten in der Abfertigungshalle des Frankfurter Flughafens. Anschließend würde sich das Tier vermutlich noch genüsslich eine Flasche Wodka zur Verdauung in den Rachen schütten. Herr Müller taucht in eine Wanne voller Selbstmitleid ein. Hätte er doch besser mal seinen Bizeps trainiert, statt die Abende immer im Büro zu verbringen. Nun ist es zu spät!

      Doch wie bezwingt man einen russischen Bären? Ausharren und ihm kampflos den Vortritt in der Warteschlange überlassen? Das verbietet ihm sein süddeutscher Stolz!

      In seinem Inneren brodelt es, und dann beginnt der Vulkan auch schon zu speien: »Entschuldigung, aber ich stehe auch in der Reihe und zwar schon locker seit einer halben Stunde!« Herrn Müllers Satzmelodie macht einen Quantensprung ans obere Ende der Tonleiter. Mit solch einem Auftreten würde er nicht mal ein Gummibärchen in die Flucht schlagen, geschweige denn einen echt russischen Meister Petz, der sicher gerade erst der Taiga entsprungen ist! Und der ihn zudem auch noch um eine Kopflänge überragt!

      Langsam kommt Bewegung in das Bärenfell, das sich träge umdreht. Zwei schwarze Augen blicken ihn fragend an. Der Bär öffnet seinen Mund ... nein, da kommt kein Brüllen heraus, sondern Laute, die Herr Müller nicht versteht.

       »Russkij?«

      Herr Müller zuckt verlegen mit den Schultern. »Njet!«

      Von vorne wirkt der Bär, im Russischen übrigens medwjed, noch bedrohlicher ... äh, eigentlich war die Kritik ja nicht so gemeint ... nicht im Geringsten ...

      Der Bär brummt noch etwas, und schon dreht sich das pelzige Wagenrad wieder nach vorne. Aha, es gilt also das Recht des Stärkeren? Das kann ja heiter werden in den kommenden beiden Jahren in Moskau, falls alle Russen so unhöflich und vor allem bedrohlich wirken sollten!

       Was ist diesmal schiefgelaufen?

      Stopp, Herr Müller! Nicht so voreilig! Russische Bären laufen natürlich nicht einfach frei auf dem Frankfurter Flughafen herum. Und falls diese ihre Verdauung nach dem Verzehr eines Passagiers noch mit einer Flasche Wodka fördern sollten, dürfte dies nicht nur Tierpsychologen, sondern vermutlich auch sämtliche Paparazzi im Land in Aufruhr versetzen.

      Auch in Russland gibt es selbstverständlich Warteschlangen, die respektiert werden. Denn solche Schlangen – übrigens eine ungewohnte Gattung, die weder beißt noch giftig ist, dafür langlebiger als der nordsibirische Permafrostboden sein kann – gehörten fest zum sowjetischen Alltag. Mangelwirtschaft und leere Regale prägten das Leben der Menschen. Wenn es etwas zu kaufen gab, und seien es nur taubenblaue Stoffturnschuhe in Größe 41, reihte man sich eben stundenlang in die Warteschlange ein. Später würde man die Schuhe schon mit jemandem tauschen können für ein Produkt, das man selbst benötigte. So funktionierte die sowjetische Planwirtschaft im Alltag. Manchmal konnte es auch vorkommen, dass für eine Ware massiv Propaganda gemacht werden musste, um diese dem Volk schmackhaft zu machen – und das Produkt letztlich unter die Leute zu bringen: Fischkonserven etwa, weil die staatlichen Betriebe zu viel davon produziert hatten und man nicht wusste, wohin damit. Die Fabriken orientierten sich bekanntermaßen am Plan statt an der Nachfrage.

      Doch nicht nur vor den Geschäften gab es lange Reihen: Um einen Blick auf den bleichen, mumifizierten Lenin in seinem Mausoleum zu erhaschen, wickelte sich die Menschenschlange mindestens einmal munter um den Roten Platz in Moskau. Und als 1990 der erste McDonald’s der Sowjetunion auf dem Moskauer Puschkinplatz eröffnete, rasselte die Schlange ungewohnt heftig: Vier Stunden dauerte die Wartezeit für Big Mäc und Co.! Über 30.000 Menschen waren zur Einweihung der amerikanischen Fast-Food-Kette gekommen, mehr als je in einem anderen Land zuvor! Dabei gab es natürlich auch ganz Findige, die davon profitierten: Diese reihten sich in die Schlange, um die gekauften Burger später vor der Filiale teurer zu verkaufen, eben mit einem gewissen »Warteschlangen-Zuschlag«.

      Den enormen Menschenauflauf bei der Eröffnung des ersten Mc-Donald’s in Moskau sieht die Markenforscherin Luise Althanns als Zeichen dafür, dass die Bürger mit der sowjetischen Lebensrealität sehr unzufrieden waren. Die Neugier auf Westprodukte habe die Menschenmassen angelockt, beschreibt Althanns in ihrem Buch »McLenin« den Übergang