Daniel Muller

Fettnäpfchenführer Thailand


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und sie werden in ihrer vorübergehenden neuen Heimat sein. Ganze Stapel an DVDs, Reisemagazinen und Kulturratgebern haben die drei in den letzten Monaten eifrig studiert, sogar mühsam ein paar Brocken Thai gelernt – aber grau ist alle Theorie, und der sagenhafte Ferne Osten hat bislang noch jeden Europäer in den Bann geschlagen.

      Während es draußen langsam hell wird und aus dem Fenster schemenhaft seltsam geformte Landschaften zu erkennen sind, hat das Bordprogramm bereits auf Airshow umgeschaltet. Die Stewardessen in ihren lilafarbenen Kostümen mit einer frischen Orchidee am Revers huschen mit grazilen Trippelschritten und einem ansteckenden Dauerlächeln durch die Gänge, um das Frühstück zu präparieren. Die Meyers befinden sich im Anflug auf die thailändische Hauptstadt Bangkok, wo Martin ein Jahr lang den Aufbau der Produktionsstätte eines Automobilzulieferers beaufsichtigen soll. Trotz einiger Bedenken und eher skeptischer Reaktionen im Bekanntenkreis hat die Familie beschlossen, das Asien-Abenteuer gemeinsam zu wagen. Und entsprechend aufgeregt sind sie nun ob der bevorstehenden Ereignisse. Aber alle Aufgeregtheit hin oder her – nach nunmehr neun Stunden Flug wollen die Meyers erst mal nur eines: endlich ankommen.

      Martin holt zum x-ten Mal die Ausgabe der Bangkok Post, die beim Einstieg verteilt wurde, aus der Tasche seines Vordersitzes hervor und versucht angestrengt, den englischen Wörtern einen Sinn zu geben. Dort ist von irgendeiner Regierungsumbildung die Rede, wobei es ihm unmöglich ist, die komplizierten thailändischen Namen auseinanderzuhalten, geschweige denn die geschilderte Sachlage auch nur annähernd zu erfassen. Teenager Lisa drückt, nachdem sie ihr Tagebuch beiseitegelegt hat, gelangweilt auf ihrem Falt-Tablet herum. Als Mutter Susanne versucht, ihr Kissen zurechtzurücken, stößt sie damit ihre Nachbarin an, eine Thai, die den gesamten bisherigen Flug im Schlummermodus verbracht hat.

      »Oh, verzeihen Sie!« Susanne zieht ihr Kissen zurück.

      »Mai pen rai« (Macht nichts), murmelt diese noch etwas schlaftrunken.

      »Mein Name ist Susanne Meyer, wir kommen aus Hamburg und werden für ein Jahr in Bangkok leben«, stellt sich Susanne akkurat vor. Wer weiß, vielleicht erfährt sie ja etwas Interessantes über Thailand, wenn sie die Kommunikation am Laufen hält.

      »Sawadee kha (Hallo), ich heiße Rupata und war gerade bei meiner Schwester in Frankfurt zu Besuch. Die hat dort mit ihrem Mann ein Restaurant. Sie werden Thailand bestimmt mögen – es ist ein großartiges Land!«

      »Wir sind alle drei große Fans der Thai-Küche.« Ihre Gesprächspartnerin strahlt vor Freude. Susanne hat das Gefühl, dass sie sich auf Anhieb sympathisch sind, und so entschließt sie sich, einige ihrer drängendsten Fragen loszuwerden. Sie tastet sich langsam vor: »Leben Sie auch in Bangkok?«

      »Ursprünglich stamme ich aus Khorat, also aus Nakhon Ratchasima, lebe aber schon seit einigen Jahren in Bangkok. Aber ich besuche regelmäßig meine Familie in der Heimat. In Bangkok kann man natürlich viel mehr unternehmen, aber dort, wo man aufgewachsen ist, ist es eben doch am schönsten.«

      »Aber das liegt doch im Nordosten. Sind die Leute dort wirklich so schrecklich arm, wie ich gelesen habe?«, entfährt es Susanne unwillkürlich.

      »Ja, bei uns im Isaan sind die Böden nicht so gut, und es ist sehr trocken, weshalb die Ernten nicht so üppig ausfallen. Aber dafür haben wir eine sehr reichhaltige Geschichte. Und auch die Küche des Isaan ist besonders. Auf jeden Fall müssen Sie mal som tam (scharfer Salat aus unreifen Papayas) probieren!«

      »Das muss doch ein sehr hartes Leben sein?« Susanne nimmt ihr Frühstückstablett in Empfang und erwidert das herzliche Lächeln der Stewardess. Wie freundlich hier alle sind.

      »Ja, schon, aber die Menschen dort sind recht genügsam«, erklärt Rupata, zieht das Boardmagazin Sawasdee hervor, breitet es über ihrem Frühstückstablett aus und beginnt zu lesen.

      Hm, soll’s das schon wieder gewesen sein mit dem Gespräch?

      Als Rupata sich in einen Artikel vertieft, beugt sich Martin zu ihnen hinüber. »Die Armut auf dem Land ist doch eine Ursache für die politischen Probleme in Thailand«, sagt er mit einem fragenden Unterton.

      Rupata zieht die Stirn ein wenig in Falten und entgegnet, ohne dabei ganz von ihrem Magazin aufzusehen: »Wir Thais sehen uns als eine große Familie, und wie in jeder Familie gibt es auch bei uns kleinere Streitereien. Ich kann Ihnen übrigens ein paar sehr gute Ausflugshinweise für die Umgebung von Bangkok geben, wenn Sie möchten.« Sie blickt die Meyers offen an.

      »Aber was ist mit den schlimmen Bildern, die wir im Fernsehen gesehen haben?« Susanne ist sich sicher, dass ihr Mann recht hat. Die Armut auf dem Land führt wirklich zu massiven Problemen.

      Rupata schweigt und blättert in ihrer Zeitschrift. Dann sagt sie: »Das waren nur vereinzelte Vorfälle. Aber im Großen und Ganzen herrscht bei uns eine große Harmonie.«

      »Könnte es sein«, mischt sich Martin abermals ein, »dass es an der Religion liegt, dass in Ihrem Land die Probleme nicht offen angesprochen und gelöst werden?«

      Rupata lächelt verlegen und scheint dabei tiefer in ihren Sitz zu sinken. Dann widmet sie sich ihrem Frühstück.

      Beim Aussteigen verabschiedet sie sich von den Meyers mit einem kurzen Gruß und geht schnurstracks ihrer Wege. Zurück bleibt ein konsterniertes Ehepaar.

       Was ist da schiefgelaufen?

      Wie lässt sich dieser drastische Stimmungswandel erklären? Zunächst einmal gilt, wie überall auf der Welt, dass auch die Thais sich nicht so gern von Ausländern über ihre Probleme aufklären lassen. Selbstverständlich gibt es auch in Thailand eine Vielzahl von sozialen Konflikten – nach außen hin ist man jedoch stets bestrebt, vor allem das Positive herauszustellen. Dabei ist zu bedenken, dass die Thailänder trotz aller regionalen Rivalitäten glühende Patrioten sind. Schließlich haben sie es mit großem diplomatischem Geschick und einer klugen Bündnispolitik vermocht, als einziges Land Südostasiens der direkten kolonialen Fremdherrschaft zu entgehen. Genauer gesagt, hat man der Einrichtung von europäischen Handelsniederlassungen zugestimmt, was auch den Vorteil hatte, dass man sich wohldosiert mit westlichen Verhaltensweisen vertraut machen konnte. Selbst den großen Kulturen Indien und China ist es nicht gelungen, koloniale Ambitionen auf Abstand zu halten. In einer heiklen Sandwichposition zwischen Britisch-Indien und Französisch-Indochina gelegen, war dies eine Meisterleistung der thailändischen Führung, auf die man zu Recht stolz ist.

      Und es macht natürlich einen riesigen Unterschied, ob dieselben Dinge von einem Insider oder einem Outsider kritisiert werden – wie würde es ein Deutscher auffassen, wenn ihn ein, sagen wir, Südkoreaner über die Vor- und Nachteile des deutschen Sozialsystems belehren würde? Hinzu kommt, dass in Thailand, mehr als in unseren Breiten, dezente Zurückhaltung und Respekt zentrale Gebote im Umgang miteinander sind.

      Thais sind megatolerant und kümmern sich bevorzugt um ihren eigenen Kram. Höflichkeit ist nicht nur eine Frage der guten Kinderstube, sondern ein Grundprinzip, auf dem die thailändische Gesellschaft aufgebaut ist. Dazu gehört es, kritische Fragen – wenn sie denn unbedingt sein müssen – nur sehr dosiert und verklausuliert vorzutragen. Dies gilt speziell für direkte persönliche Kritik, auf welche die Thais enorm dünnhäutig, ja, explosiv reagieren können, aber auch für Kritik an den allgemeinen Verhältnissen. Dabei besitzen die Thais ein verblüffendes Talent, unerfreulichen Dingen und Fragen elegant auszuweichen oder diese schlicht und einfach zu ignorieren.

      Wer nach Erklärungen für dieses eigentümliche Verhalten sucht, wird nicht zuletzt bei der herausgehobenen Rolle des Buddhismus in Thailand fündig, der lehrt, dass nur gleichmütiges Reden und Denken Erlösung versprechen (mehr dazu in Kapitel 14: »Don’t touch the monk!«). Bevor man irgendetwas Verfängliches von sich gibt und den anderen womöglich verletzt, belässt man es lieber bei mehrdeutigen Aussagen. Die tun niemandem weh, und (fast) jeder weiß, was von ihnen zu halten ist. Anstatt sich mit den diversen unschönen Seiten dieser Welt auseinanderzusetzen, betont man vielmehr die positiven Aspekte und erfreut sich an den (mehr