Rußland von seinen Verbündeten fast vollständig abgeschnitten. Rußland trug die Hauptlast des Krieges, bei wachsender Revolutionsgefahr für den Zarismus. Die deutschen Siege im Osten hatten eine militärische Entscheidung nicht gebracht. Um so näher hätte es gelegen, nun wenigstens politisch die militärischen Erfolge auszuwerten. Ein Sonderfrieden Deutschlands mit Rußland auf Grundlage des Status quo wäre wahrscheinlich im Herbst 1915 und im Jahre 1916 zu erreichen gewesen. Aber wenn Bethmann-Hollweg der russischen Regierung ankündigte, daß sie unbedingt ihre Westprovinzen verlieren müsse, blieb der Zar lieber bei der Entente.
Was die westlichen Ziele betraf, so plante Bethmann-Hollweg die Erwerbung von Longwy-Briey. Zum Ersatz wollte er den Franzosen Grenzberichtigungen an anderen Stellen Elsaß-Lothringens gewähren. Dabei war es klar, daß Frankreich auf den Verlust des wertvollen Erzgebietes nur nach einer vollständigen militärischen Niederlage eingehen würde. Der Plan, die Franzosen anderweitig dafür zu entschädigen, konnte ernsthaft nichts bedeuten. Doch äußerte sich Bethmann-Hollweg offiziell darüber nicht. Dagegen sprach er über Belgiens Zukunft ebenfalls am 5. April 1916 im Reichstag. Er versicherte, daß der »Status quo« Belgiens erledigt sei. Deutschland müsse reale Garantien dafür haben, daß Belgien kein englisch-französischer Vasallenstaat werde. Ferner müsse Deutschland den flämischen Volksstamm vor der »Verwelschung« schützen. Das war im wesentlichen das alldeutsche Programm einer deutschen Vorherrschaft über Belgien. Bethmann-Hollweg schloß sich sogar den Projekten an, die sich in Belgien besonders auf die Flamen, im Gegensatz zu den französisch sprechenden Wallonen, stützen wollten. Hier lag ein historisch-politischer Irrtum schwerster Art. Die beiden Nationalitäten, aus denen Belgien sich zusammensetzt, stehen zueinander wie die deutschen zu den französischen Schweizern. Zu »befreien« gab es hier nichts. Mindestens 99 Prozent des flämischen Volkes lehnten jede Einmischung Deutschlands in die inneren Verhältnisse Belgiens ab. Ein von Deutschland geschaffenes autonomes Flandern wäre also nur mit Militärgewalt aufrechtzuerhalten gewesen.
An sich war die Sorge der deutschen Regierung verständlich, daß Belgien keine Einfallspforte Englands auf dem Kontinent sein sollte. Aber diese Gefahr war nur durch eine kontinentale Verständigung zwischen Deutschland, Frankreich und Rußland zu beseitigen. Wenn Deutschland bewies, daß es wirklich eine kontinentaleuropäische Verteidigungspolitik betrieb, dann hätte es von Belgien (im ganzen, nicht von einem utopischen Flandern) Garantien verlangen können, daß Belgien sich der kontinentaleuropäischen Front einfügte. Aber wenn Bethmann-Hollweg an Kriegsziele dachte, die eine völlige Besiegung Frankreichs und Rußlands voraussetzten, wie wollte er sich dann in der belgischen Frage gegen England durchsetzen? Und wie vertrug sich dieses Kriegszielprogramm mit der pessimistischen Beurteilung der Kriegslage durch Bethmann-Hollweg?
Es ist ganz klar, daß Bethmann-Hollweg seine Kriegsziele nicht auf Grund der militärischen und außenpolitischen Lage Deutschlands, sondern als innerpolitisches Kompromiß formulierte. War Bethmann-Hollweg auch in der Sache, was die westlichen Kriegsziele betraf, mit den Konservativen und Nationalliberalen im wesentlichen einig, so wählte er seine Ausdrücke so sorgfältig, daß er auch die Sozialdemokraten nicht ganz abstieß. Bei gutem Willen konnte man seine Worte so auslegen, daß er keine »Eroberungen«, sondern nur friedliche, billige Vereinbarungen anstrebe. Aber gerade diese seine vorsichtige Form erbitterte die konservativ-nationalliberale Gruppe. In der Sache bot Bethmann-Hollweg den sogenannten Annexionisten eigentlich alles, was sie nur wünschen konnten. Aber sie wollten die offene, scharfe Aussprache der deutschen Kriegsziele, eigentlich nicht gegenüber dem Feind, sondern als innerpolitische Machtprobe: Scheidemann sollte nicht sagen dürfen, daß er den Reichskanzler richtig auslege25. Die bisher in Deutschland herrschenden Schichten wollten nicht einmal den Schein dulden, als ob die Sozialdemokratie auf die deutsche Kriegspolitik Einfluß übe. Auch bei den sogenannten Alldeutschen war der Kriegszielstreit in erster Linie eine innerpolitische Frage, genauso wie auf der anderen Seite bei den Arbeitern.
Bethmann-Hollweg hat das Kompromiß zwischen den Kriegszielen der aristokratischen und industriellen Oberschicht und den Zielen der sozialdemokratischen Arbeiter in denkbar unglücklichster Form gesucht. Der Einfluß der Sozialdemokraten auf ihn führte nicht dazu, daß er seine Forderungen mäßigte, sondern er packte eigentlich auf die alldeutschen Eroberungspläne auch noch die sozialdemokratischen Befreiungsprojekte im Osten auf und schuf sich so ein absurdes, völlig undurchführbares Kriegszielprogramm. Die Haltung der Regierung befriedigte niemand. Auf der rechten Seite wuchs die Opposition der Konservativen und Nationalliberalen gegen den Reichskanzler, und auf der linken Seite wurde es der sozialdemokratischen Parteiführung immer schwerer, die Politik der Regierung gegen die erbitterten Arbeiter zu verteidigen.
Einen ähnlichen Mittelweg wie in der Frage der Kriegsziele suchte Bethmann-Hollweg auf dem Gebiet der Kriegswirtschaft. Die ständigen Klagen der Sozialdemokraten über die schlechte Ernährung der Arbeiter beantwortete Bethmann-Hollweg mit immer schärferem Ausbau der Zwangswirtschaft. Deutschland war damals in der Lage einer belagerten Festung. So war ein staatliches Eingreifen in die Lebensmittelversorgung unvermeidlich. Aber die preußisch-deutsche Bürokratie, die in normalen Verhältnissen pünktlich und exakt arbeitete, war diesen neuen ungeheueren Aufgaben nicht gewachsen. Je mehr auf dem Gebiet der Ernährung »organisiert« wurde, um so mehr verschwanden die Lebensmittel vom Markt. Was im einzelnen damals in Deutschland hätte besser gemacht werden können, ließe sich selbstverständlich nur durch eine eingehende Spezialuntersuchung feststellen. Politisch hatte die Regierung mit der Zwangswirtschaft, die sich schließlich auf so gut wie alle Nahrungsmittel ausdehnte, nur Mißerfolge. Die Lebensmittelkarte mit ihrer gleichen Nahrungsmenge für arm und reich sollte als Konzession an die städtische Arbeiterschaft wirken. Aber die steigende Hungersnot machte die Stimmung des Proletariats immer schlechter, und zur selben Zeit entfremdete sich die Regierung, wie oben festgestellt wurde, alle Sympathien der Landbevölkerung.
Nach zwei Jahren Krieg und »Burgfrieden« hatte die kaiserliche Regierung gleichmäßig in allen Schichten des deutschen Volkes ihre Autorität eingebüßt. Niemand traute ihr, und niemand hoffte etwas von ihr. Der nächste Anstoß genügte, um sie über den Haufen zu rennen. Er kam durch eine neue Wendung der Kriegslage.
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